Eltern unter Leistungsdruck

Die Anforderungen an die Leistungen von Eltern sind sprunghaft gewachsen. So sehr, dass sie in Überforderungen umzukippen und die Entwicklung der Kinder zu gefährden drohen.

Was braucht ein Kind?

Was stärkt, was gefährdet seine Gesundheit? Was fördert, was hemmt seine geistige Entwicklung und seine Orientierung in der Umwelt? Welche Erziehungsmaßnahmen unterstützen seine individuelle Persönlichkeit, welche verletzen seine Würde? Welche gesellschaftliche und staatliche Unterstützung können Familien nutzen, damit die Entwicklung und Erziehung ihrer Kinder so gut wie möglich gelingt?

Neue Väter und Supermütter

Das Wissen über diese Fragen haben Wissenschaft, Medizin und das Bildungssystem in den vergangenen 30 Jahren enorm erweitert und verbreitet. Auf juristischer Ebene haben sich neue Erziehungsnormen durchgesetzt; Volkshochschulen, Familienbildungsstätten und eine ausufernde Ratgeberliteratur haben pädagogisches und psychologisches Wissen für jedermann verständlich aufbereitet; gesundheitliche Vorsorgeuntersuchungen bis ins Schulalter gelten heute fast schon als Pflicht, von Krankenkassen bis zur Kundenzeitschrift der Bäcker-Innung propagieren Experten ein bewussteres Ernährungsverhalten. Die allermeisten Eltern kennen die Erwartungen, die so an sie herangetragen werden, oder ahnen sie zumindest – und fühlen sich entsprechend „mangelhaft“, wenn sie ihnen nicht nachkommen können.

Seit Anfang der 1970er Jahre hat vor allem das Wissenschafts- und Bildungssystem Eltern wieder und wieder eingeschärft: Begabung oder Nichtbegabung eurer Kinder sind nicht einfach „Schicksal“; vielmehr hängen Sozialisationserfolge oder -defizite genauso von eurem elterlichen Verhalten ab. Eltern haben die schulischen Leistungen ihrer Kinder zu unterstützen – bis hin zur Hausaufgabenbetreuung. Gleichzeitig ließen verlängerte Bildungs- und Ausbildungszeiten die materiellen Leistungsanforderungen an die Eltern kräftig wachsen.

Nicht nur ökonomisch mobilisieren Eltern heute für die wenigen Kinder pro Familie wesentlich mehr Leistungen als frühere Generationen. Sozialhistorische Forschungsergebnisse zeigen: Auch was die Intensität der Beziehungen und den Zeitaufwand für die Betreuung der Kinder angeht, sind Mütter (vor allem) und Väter heute stärker gefordert.

Konkurrenz der Eltern um das Kind entsteht

Die „moderne“ starke Kind-Orientierung beider Eltern beginnt schon mit der Schwangerschaft, die die meisten Frauen und Männer heute als eine gemeinsam gewollte und erlebte Erfahrung sehen. Der „neue Vater“ bleibt nicht mehr nur Beobachter wie früher, sondern beteiligt sich häufig aktiv an den Vorbereitungen für die Ankunft des Kindes und ist bei der Geburt dabei. Noch vor nicht einmal 30 Jahren hätten Ärzte und Pflegepersonal seine Anwesenheit im Kreissaal sowohl mit normativen als auch mit praktischen Argumenten entschieden abgelehnt.

Weiter: Viele junge Väter beteiligen sich inzwischen ganz selbstverständlich an der Pflege und Betreuung ihrer Säuglinge, ein Verhalten, das ihre Väter und Großväter als unmännlich weit von sich gewiesen hätten (und wozu sie wegen ihrer Unkenntnis im Umgang mit Säuglingen auch gar nicht in der Lage gewesen wären). Zwar kann von einer quantitativ gleichen Aufteilung der Arbeiten, wie Frauen sie immer wieder fordern, nicht die Rede sein; trotzdem führt das Engagement der Väter für die Sozialisation ihrer Kinder neuerdings in vielen jungen Familien schon zu einem bisher nicht gekannten Ausmaß von Konkurrenz der Eltern um das Kind. Früher standen die Mütter den Kindern unbestritten näher und hatten damit als Vermittler zwischen Vater und Kind(ern) eine zentrale Stellung in der Familie inne.

Das gesamte Gefühlsleben konzentriert sich auf die Kinder

Heute dagegen fühlen manche Mütter sich zuweilen – auch weil sie noch immer das Gros der Hausarbeit leisten müssen – im Umgang mit dem Kind „an den Rand gedrückt“; vor allem wenn die Kinder älter werden, so ihre Befürchtung, könnten sie ihnen den „Freizeitvater“ vorziehen. Besonders erwerbstätige Mütter sind anfällig für solche Konkurrenzgefühle.

„Nur-Hausfrauen“ oder, wie ich lieber sage, „Vollzeit-Hausfrauen“ neigen deshalb – gerade wegen ihres Verzichts auf einen Beruf – dazu, sich als „Supermutter“ zu profilieren. Zwar sind auch sie überzeugt, dass die Beziehung zum Vater für den Säugling wichtig wäre; dennoch lassen sie ihn, wie empirische Untersuchungen zeigen, auf häufig unbewusste, subtile Weise spüren, dass nur sie die „wirklichen“ Bedürfnisse ihrer Kinder kennen und dass die Kinder letzten Endes nur auf sie angewiesen sind. Diese Konstellation bringt häufig den Wunsch und die Bereitschaft der Väter zum Erlahmen, sich an der Pflege und Betreuung des Kinder zu beteiligen; manche werden somit unbewusst und ungewollt zu traditionellem Väter-Verhalten gedrängt, andere nehmen diese Rolle vielleicht mehr oder weniger „befreit“ wieder auf.

Allerdings hindert das Frauen (und „ExpertInnen“) nicht daran, sich ihrerseits wieder über das zunehmend distanzierte Verhalten der Väter bei der Pflege und Erziehung der Kinder zu beklagen; eheliche Konflikte sind damit vorprogrammiert.

Die Entstehung eines anderen Konfliktfelds wirkt auf den ersten Blick fast paradox: Gerade wegen der geringen Kinderzahl pro Familie konzentriert sich nunmehr alles, auch das gesamte Gefühlsleben auf diese wenigen Kinder.

Die möglichen Folgen:

1          Manche Eltern fürchten den Liebesentzug ihrer Kinder und trauen sich aus Verlustangst nicht mehr, ihnen Grenzen zu setzen und Wünsche zu verweigern.

2          Der Eigenwert der Ehe-(Paar-)Beziehung gegenüber der Eltern-Kind-Beziehung sinkt; gerade Frauen empfinden das oft als Defizit. Die Soziologinnen Helga Krüger und Ursula Rabe-Kleberg illustrieren diese Entwicklung in einem Interview mit einer Mutter: „Oh doch, unsere Beziehung hat sich schon verändert. Es ist schwierig, das auszudrücken. Man kann sagen, dass da jetzt halt ein Kind ist und dass sich da zwar nicht alles drum dreht, um Gotteswillen, nein, aber eben doch sehr vieles, und dass es zum Beispiel ganz, ganz viele Gesprächsthemen gibt über das Kind, die vorher eben nicht da waren. Dadurch kann man eben – glaube ich – auch viele Sachen verschleiern und verdecken, die man nicht mehr so anspricht, weil eben das Kind da ist. Vorher … hat man sie vielleicht eher angesprochen“. Die Kindzentriertheit hat dazu beigetragen, dass vor allem mehr Mütter sich heute ihrer Bedeutung für den Entwicklungsprozess ihrer Kinder bewusst sind; bei vielen hat das auch zu erhöhter Verunsicherung im Erziehungsverhalten geführt hat. Die Erwartungen, jedenfalls bei einer maßgeblichen Gruppe der heutigen Eltern, an ihre Kinder und an ihre emotionale Beziehung zu ihnen sind hoch; gleichzeitig meinen viele, dass nur sie selbst in der Lage sind, Äußerungen und Verhalten ihres Säuglings richtig zu interpretieren und entsprechend richtig darauf zu reagieren. Sie betonen also ihre Selbstständigkeit und Kompetenz in Sachen Erziehung gegenüber Dritten. Dieses Vertrauen auf das eigene Pflege- und Erziehungswissen und ihr „Alleinvertretungsanspruch“ im Hinblick auf das eigene Kind löst sie zunehmend aus traditionellen Sinnzusammenhängen und bürdet ihnen einen hohen Erwartungsdruck an die eigene Leistung auf. Die Toleranzschwelle gegenüber Unmutsäußerungen des Säuglings sinkt damit häufig; sie verstehen sein Schreien vielfach als Unzufriedenheit, sprich: als Hinweis auf eine schlechte Versorgung. So steht mit dem Wohl des Säuglings immer auch zugleich das Selbstwertgefühl der Eltern zur Disposition.

Dazu kommt:

Die Probleme, mit denen ihr Kind sie konfrontiert, sind für die jungen Mütter „Neuland“; wegen der geringen Zahl von Kindern in der Familie und auch sonst in der Öffentlichkeit haben sie kaum noch Erfahrung mit Säuglingen, schon gar nicht intensiv, bevor sie ihre eigenen bekommen. Herkömmliche und übliche Schwierigkeiten weiten sich deshalb in ihrem Empfinden oft zu existentiellen Krisen aus: „Das kurze und zugespitzte Urteil einer berufserfahrenen Hebamme lautet: Die jungen Leute sind heute vielfach hysterisch! Sie meint damit aus ihrer Sicht, Kleinigkeiten werden ungeheuer wichtig genommen; es wird überängstlich und besorgt ständig auf das Kind geschaut. Damit wird zum Problem, was aus robuster Profi-Sicht gar keins ist“, schreibt der Soziologe Johann August Schülein in seinem Buch „Die Geburt der Eltern“.

Auch das weitere Elternleben fordert von kindorientierten Müttern und Vätern sehr viel Zeit, Energie und kognitive Kompetenz. Denn ihre kindorientierte Pädagogik billigt den heutigen Kindern im Vergleich zu vorausgegangenen Kindergenerationen weitaus größere Handlungsspielräume und mehr Entscheidungsmacht über ihr eigenes Leben zu. Statt auf Ge- und Verbote setzt sie stärker auf ein zähe Verhandlungsarbeit in Form von Erklärungen und Diskussionen. Der Sozialwissenschaftler Abram de Swaan beschreibt diese Entwicklung mit kurzen Worten treffend: „vom Befehls- zum Verhandlungshaushalt“.

Diese geforderten höheren Erziehungsleistungen müssen Eltern zudem in einem Umfeld erbringen, das ihre Aufgabe zusätzlich erschwert.

Zwei Stichpunkte:

•          die neuen Medien. Neben dem Fernsehen stellt auch das Internet Mütter und Väter vor neue Herausforderungen. Nach Hoffnung bis Überzeugung vieler Eltern kann der Zugang dazu die schulische Bildung vor allem von Jugendlichen fördern. Andererseits sind Eltern nicht nur gefordert, ihren Kindern Bildungschancen zu ermöglichen, sondern auch „die Geister, die sie riefen“, zu kontrollieren. Doch damit fühlen viele sich überfordert. Sie erahnen oder vermuten zwar die Gefahren, die das Internet durch seine nahezu unzensierten Kommunikationsmöglichkeiten birgt, sind aber auf Grund ihrer eigenen mangelnden Medienkompetenz kaum in der Lage, ihre Kinder davor zu schützen.

•          die Schwierigkeiten in der Organisation und Koordination der familialen Zeitstrukturen. „Familie“ heißt auch „Zeit miteinander verbringen“; das setzt eine Abstimmung der Zeiten der einzelnen Familienmitglieder voraus. Diese Aufgabe haben in der Praxis vor allem die Mütter zu bewältigen. Als besonders schwierig erweist sich das für Ehepaare in Karriereberufen, zumal die Arbeitswelt noch immer keine Rücksicht auf die Familie nimmt. Und ausgerechnet die besonders empfindliche Phase der Kleinkind-Erziehung deckt sich mit dem zeitlich besonders anspruchsvollen Karrierebeginn und -aufbau im Beruf …

Nicht zu vergessen:

Der Anteil von Kindern, die von der Wohlstandsentwicklung abgekoppelt sind, hat progressiv zugenommen, vor allem durch die wachsende Zahl von Familien, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind und von „Hartz IV“ leben müssen. Die Wohnverhältnisse vieler Familien sind unzureichend; der Wohnungsmarkt hält für Einkommensschwache, insbesondere für junge, kinderreiche und allein erziehende Eltern zu wenig angemessene Angebote bereit. Ökonomisch belastete, in „engen“ Verhältnissen lebende Familien geraten erfahrungsgemäß auch psychisch häufiger in Stress-Situationen; innerfamiliale Konflikte sind bei ihnen vorprogrammiert.

Rosemarie Nave-Herz