Die Mutter im Hintergrund

Allein mit konkreten Verhaltenstipps ist Eltern mit Erziehungsproblemen oft nicht geholfen. Zum Beispiel wenn sich dahinter verdrängte Schuldgefühle verbergen.

Die Frage nach „Schuld“ schwingt oft mit

Meine Ex-Frau lässt unseren Kindern zu viele Freiheiten; eigentlich kümmert sie sich kaum um ihre Erziehung. Wenn die beiden dann am Wochenende bei mir sind, reagieren sie genervt auf jeden Versuch, ihnen etwas zu sagen. Was kann ich tun, damit meine Frau mehr mit mir an einem Strang zieht?“ Die Anliegen der meisten Eltern, die in eine Erziehungsberatungsstelle kommen, sehen ganz ähnlich aus wie das von Herrn Meier: Sie haben mehr oder weniger konkrete Fragen zu Verhaltensweisen ihrer Kinder, die sie als Problem empfinden, und suchen darauf möglichst konkrete Antworten. Die Frage nach „Schuld“ schwingt dabei oft mit, aber eher verdeckt. Ausdrücklich gestellt wird sie am ehesten von Müttern, etwa von berufstätigen allein erziehenden, die sich fragen, ob sie nicht mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen müssten, und deswegen Schuldgefühle entwickeln.

Kinder haben ein „Bindungsgewissen“

Aber längst nicht jeder, der Schuldgefühle äußert, hat tatsächlich Schuld auf sich geladen, und umgekehrt ist längst nicht jeder „unschuldig“, der keine Schuldgefühle spürt und folglich nach eigener Einschätzung auch nicht leidet. Das Instrument, das uns „Schuld“ anzeigt und die entsprechenden Gefühle macht, arbeitet also offensichtlich recht unzuverlässig. Und doch kommt auch eine Erziehungsberatungsstelle nicht darum herum, ihren Klienten auch in dieser Dimension Perspektiven anzubieten. Die Psychologen nennen die Sinne, die uns eine „Schuld“ anzeigen, das „Über-Ich“ und das Gewissen; diese beiden bilden eine Art Prüfinstanz, die gleichsam Wegweiser unseres Handelns sein kann. Der gleichermaßen bekannte wie umstrittene Therapeut Bert Hellinger, dessen Denkweise meine Arbeit beeinflusst, versteht darunter nichts Einheitliches, sondern etwas sehr Vielschichtiges. Kinder haben zum Beispiel eine tiefe Bindung an ihre Herkunftsfamilie; für ein Kind wäre es das Schlimmste, wenn es daraus ausgeschlossen würde. Es lebt elementar mit dem Bewusstsein: „Hier gehöre ich hin. Hier will ich dazugehören, und ich teile das Schicksal dieser Familie, was immer es ist.“ Hellinger spricht deshalb von einem „Bindungsgewissen“. „Ein gutes Gewissen haben“ heißt in diesem Kontext: „Ich bin sicher, dass ich dazugehören darf.“ Schuldgefühle empfindet ein Kind dagegen so: „Ich fürchte oder muss befürchten, nicht mehr dazuzugehören.“

Sich der Schuld stellen bedeutet „Entwicklung“

Eine andere Erfahrung von Schuld entspringt einem Ungleichgewicht von Geben und Nehmen. Tief in der Seele gibt es offenbar das Bedürfnis nach Ausgleich: Wer etwas bekommt, hat das Bedürfnis auszugleichen, indem auch er gibt. Das hat eine wichtige soziale Funktion: Eine Gruppe wird dadurch zusammen gehalten, dass jeder gibt und jeder nimmt; wenn ich von einem anderen etwas bekommen habe, fühle ich mich bei ihm in der Schuld.

Vor allem das „Bindungsgewissen“ erweist sich in der Beratungspraxis oft als unzuverlässig. Dann nämlich, wenn Schuldgefühle und das Bedürfnis nach Unschuld dem kindlichen Bedürfnis entspringen, dass die Eltern sagen: „Du bist gut.“ Wichtig sind dann nur noch die Eltern, nicht die Wirklichkeit. Die (vermeintlich) Schuldigen unterscheiden nicht mehr, was gut für sie ist oder schlimm im Sinne von lebensfördernd oder lebenshemmend. Sie können nicht ausbrechen; wenn sie ausbrechen, fühlen sie sich schuldig. Weiterentwickeln kann sich aber nur, wer sich seiner Schuld stellt und sie annimmt.

Sich den eigenen Gefühlen „aussetzen“

Wie Herr Meier. Zur Zeit der Beratung waren er und seine Frau seit fünf Jahren geschieden; die Kinder (12 und 8) lebten bei der Ex-Frau und besuchten ihn regelmäßig, Herr Meier selbst lebte mit einer neuen Partnerin und deren Kind zusammen. In den Beratungsgesprächen mit Herrn Meier alleine, seiner Ex-Frau und seiner Tochter zeigte sich bald: Herr Meier hatte sich angewöhnt, den Sack zu schlagen, aber den Esel zu meinen: Alles, was er seinen Kindern an (übertriebener) Erziehung angedeihen lassen wollte, war eigentlich eine Anklage gegen die Ex-Frau, die in seinen Augen zu lasch mit den Kindern umging. Den eigentlichen Schlüssel zu seinen Problemen erwähnte er jedoch erst nach einiger Zeit der Beratung: Es gehe ihm auf die Nerven, wie schlecht seine Mutter ihn seit der Trennung von seiner Familie behandle. Sie gab ihm die Schuld am Zusammenbruch der Familie; auf eine sehr archaische Weise spürte sie und vermittelte auch ihm selbst das Gefühl, dass er durch die Trennung von seiner Frau den Kindern einen Teil ihrer Wurzeln, das uneingeschränkte Gefühl von Zugehörigkeit, familiärer Sicherheit und den unbefangenen Umgang mit allen Bezugspersonen genommen hatte. Herr Meier wandte alle Kräfte auf, sich dagegen zu wehren. Ein Teil in seiner Seele fühlte zwar ebenso, während andere Teile die Trennung als etwas Normales und Selbstverständliches rechtfertigen wollten. Ich riet Herrn Meier, die Schuld(gefühle) nicht länger abzuwehren und sich den dann aufsteigenden Gefühlen auszusetzen.

Es geht um die Übernahme der Verantwortung.

Wie so oft erschienen statt der Schuldgefühle Trauer und Hilflosigkeit; Herr Meier lernte, seine „Schuld“ sowohl an seinen Kindern wie auch an seiner Ex-Frau und anderen Mitbetroffenen, (zum Beispiel den Großeltern) uneingeschränkt auf sich zu nehmen. Er konnte besser mit den Kindern über das „verlorene Paradies“ trauern und musste nicht länger versuchen, durch übertriebenes Erziehen seine eigenen verdeckten Gefühle in Schach zu halten. Das Leben in der Familie wurde danach nicht konfliktfrei; die unterschiedlichen Auffassungen der Eltern von Erziehung und Zuwendung zu den Kindern blieben. Herr Meier konnte aber viel gelassener mit seinen Vorstellungen umgehen – und vor allem davon ablassen, wenn er merkte, dass sie manchmal nicht an den Kindern, sondern an etwas anderem orientiert waren.
Wie bei Herrn Meier hätte es auch bei anderen Beratungs-Fällen keinen Sinn gemacht, den Klienten die aufkommenden Schuldgefühle auszureden – ganz abgesehen davon, dass sich die Seele in ihrer Tiefe von ihren Erkenntnissen kaum abbringen lässt. Umso mehr kommt es darauf an, was angesichts der Schuld zu tun ist. Dabei kann es nicht um eine Art von Sühne gehen, sondern um die bedingungslose Übernahme der Verantwortung.

Denn:

„Ohne Bereitschaft zur Schuld gibt es keine Handlungsfähigkeit. Diejenigen, die unschuldig bleiben wollen, bleiben schwach. Durch ihr Bestreben, unschuldig bleiben zu wollen, bringen sie sogar zusätzliches Leid über andere.“ (Bert Hellinger)

Paul Glar