Allein mit dem Sperma
Der erste Samenerguss ist für Jungen eine einschneidende Erfahrung – ähnlich wie die erste Menstruation bei Mädchen. Doch bei ihrer Bewältigung bleiben die meisten allein.
Die das Meeresgrollen den Sturm ankündigt, so kündet sich diese stürmische Umwandlung durch das Raunen der erstarkenden Leidenschaften an: Eine dumpfe Gärung zeigt die nahende Gefahr an. Stimmungswechsel, häufige Zornausbrüche, ständige geistige Erregung machen das Kind fast unlenkbar.“ So beschrieb Jean-Jacques Rousseau im 18. Jahrhundert die Zeit der erwachenden Leidenschaften (in seinem großen Erziehungswerk „Emile“). Rousseau spricht sogar von einer zweiten Geburt, durch die der Mann zum wirklichen Leben erwache.
Die erste Verschmutzung?
Manche Aufklärungsbücher sprechen heute noch von der „ersten Pollution“. Eine verräterische Bezeichnung: Das Fremdwort „Pollution“ lässt sich auch mit „Verschmutzung“ übersetzen. Das sagt viel darüber aus, wie wir uns – auch in den Wissenschaften! – dazu stellen: eine schmutzige Angelegenheit, also Hände weg! Dagegen drückt das Wort „Sperma“ den Respekt aus, den es verdient: Es stammt aus dem Griechischen und bedeutet „Frucht“. „Sperma“ steht also für die Fruchtbarkeit des Mannes, die wiederum einen Beitrag zum Fortbestehen des Menschengeschlechts leistet. Also verdient es das Sperma, positiv wahrgenommen zu werden.
Im Körper eines Buben spielt sich in dieser Zeit, etwa im Alter von elf Jahren, eine regelrechte Revolution ab. Der Testosteron-Spiegel steigt um 800 Prozent. Diese Hormonveränderung bewirkt (unter anderem), dass zum ersten Mal Sperma aus dem Penis tritt. Für die Buben hat das weit reichende Konsequenzen. Sie erleben, dass sich ihr Körper in gewisser Weise verselbstständigt. Diese Veränderung ist nicht kontrollierbar. Der Samen tritt unvermittelt aus dem Körperinnern hervor. Das milchige Sperma haben sie bis dahin noch nicht gesehen und berührt.
Faszinierender Vorgang
Bei den wenigen Befragungen zu diesem Thema erwähnen Männer immer wieder das Faszinierende dieses Vorgangs: Sie seien neugierig geworden, in den Bann gezogen von der neuartigen Flüssigkeit und den damit verbundenen Gefühlen. Faszination und Beglückung verstärken sich, wenn Jungen entdecken: Ich kann das selbst herbei führen. Die Onanie wird bei vielen zur Ona-häufig. Glücks- und Lustgefühle, gekoppelt mit der neuen Erfahrung eines mehr oder weniger starken Orgasmus, können durch eigenes Zutun herbeigeführt werden – das ist etwas völlig Neues und Revolutionäres im Seelen- und Körperleben von Jungen! Die Entdeckung der Onanie erhält eine zusätzliche Note, wenn zum Kennenlernen des eigenen Körpers die Anziehungskraft von anderen tritt: Es ist nicht nur schön, gute Gefühle herbei zu zaubern, sondern sich auch vorzustellen, mit anderen intim zu werden. Aufregung wechselt mit Verwirrung und zeitweiliger Verunsicherung. Warum passiert das? Was hat das für Folgen? Läuft bei mir alles normal? Ich erlebe schöne Gefühle, wenn das Sperma austritt – darf ich das? Fragen über Fragen tauchen auf und wollen beantwortet sein.
Eine Umfrage unter Studenten der Uni Zürich ergab: Viele Männer erinnern sich an positive Gefühle, wenn sie an den ersten Samenerguss, die „Spermarche“ denken: Man ist stolz und glücklich, ein Mann zu sein. Aber: Viele können sich auch gar nicht an das Alter und die Situation zum Zeitpunkt der Spermarche erinnern! Und von denen, die noch davon wissen, berichtet kein einziger davon, er habe danach den Vater oder älteren Bruder aufgesucht. Mädchen finden häufig bei der Mutter oder einer älteren Schwester Informationen über die Menstruation; ein Tampon, der im Bad herumliegt, oder das Unwohl-Sein der Mutter geben Anlass zum Nachfragen. Buben dagegen bewältigen die Spemarche vorwiegend allein.
Verstohlenes Blättern am Kiosk
Zwei Gründe scheinen für die unterschiedlichen Reaktionen von Mädchen und Buben verantwortlich zu sein. Vielen Buben fehlt eine Beziehung zum Vater (oder zu einem anderen Mann), in der sie solche Themen spontan ansprechen könnten. Zudem erscheint bei der ersten Menstruation Hilfe dringlicher als bei der Spermarche: Immerhin fließt dabei Blut, das an Verletzungen erinnert. Das eine kann schmerzen, das andere macht Lust.
Also decken Buben ihr Informationsbedürfnis auf anderen Wegen. Zum Beispiel durch Zeitschriften: „So mit 13, 14 habe ich angefangen, verstohlen an den Kiosken zu blättern, und versucht, mehr Wissen über das alles zu holen. Die gehen das sehr direkt an – eine Riesendiskrepanz zu der verdrucksten Art, wie meine Eltern das versucht haben.“ Printmedien haben den Vorteil: Man kann sich individuell und nach Bedarf mit Informationen eindecken. Sie lassen Zeit für die Verarbeitung und können im Versteckten konsultiert werden. Das Heimliche ist wichtig, da es Schutz vor Bloßstellungen und Peinlichkeiten bietet. Weitere Informationsbrocken wirft das Belauschen von anderen Jungen ab.
Die Angst vor der Bloßstellung
Allerdings wird unter Gleichaltrigen streng jede Gefahr gemieden, sich selbst durch eine dumme Frage als „hinter dem Mond“ bloßzustellen. „Indem wir darüber lachen, zeigen wir einander, dass wir darüber stehen.“ Die Angst vor Blöße – handelt es sich doch um hoch intime, persönliche Angelegenheiten – verstärkt das zweite große Bedürfnis von Buben in dieser Zeit: das nach Abgrenzung. Geschlechtsreife Jungen ahnen, dass die Eltern von der neuen Lebensphase Notiz genommen haben. Sie wissen: Möglicherweise sieht die Mutter eines Tages Flecken auf der Bettdecke. Das wirkt beschämend. So werden alle Anstrengungen unternommen, die Spuren sexueller Aktivitäten zu verwischen. Um ihre Intimsphäre zu wahren, schließen Buben sich im Zimmer ein, wollen beim Duschen ungestört sein, gehen im Hallenbad alleine in eine Kabine. Die Scham soll vor erniedrigenden und entwürdigenden Situationen zu schützen, die eigene Würde und den Selbstwert erhalten; Abwertungen oder Übergriffe in die eigene Intimität werden als Verletzung empfunden.
Die Abgrenzung von den Eltern stürzt die Jungen allerdings in ein Dilemma: Die Eltern sind älter, wissen mehr über Sexualität und wären eigentlich eine vorzügliche Informationsquelle bei brennenden Fragen! Aber das Autoritätsgefälle, das Abhängigkeitsverhältnis und Ängste vor Abwertungen verhindern die „direkte“ Informationssuche bei den Eltern.
Die Eltern nehmen ebenfalls wahr, dass sich ihr Junge verändert. Sie vermuten, dass er geschlechtsreif geworden ist, fragen sich vielleicht, wie er das bewältigt. Oft wissen sie nicht, über welche Informationen er verfügt. Sie ahnen aber, dass sie ihn mit direkten Fragen in die Enge treiben und beschämende Situationen auslösen könnten. Das wollen sie natürlich vermeiden. Das Vorhaben, pubertierende Jungen im „klassischen“ Gespräch aufzuklären, ist daher oft zum Scheitern verurteilt: Der Zeitpunkt ist falsch. Oder stattdessen wird versucht, Unsicherheiten durch Schweigen zu überbrücken.
Was ist normal?
Nutzbringender ist eine kontinuierliche Sexualaufklärung, die möglichst in Alltagssituationen eingebettet ist. Kinder stellen schon früh Fragen, die im weitesten Sinne mit Sexualität zu tun haben: Sie bestaunen den Vater beim Rasieren, beobachten neugierig, wie die Eltern sich in den Arm nehmen... Gerade wir Erwachsene empfinden es ja als ganz wichtig, Sexualität als eine Sache der Gefühle und Empfindungen zu verstehen. Es ist daher durchaus angebracht, Jungen bei Gelegenheit solche Aspekte aus der eigenen Biografie zu vermitteln. Die Sprache stellt dazu ein reiches Repertoire zur Verfügung: „Der Himmel hängt voller Geigen“, „Ich war auf Wolke sieben“, „Wir sahen uns durch eine rosa Brille“ – und so weiter. So betrachtet hat auch die Geschlechtsreife mehr zu bieten als Bilder von spritzendem Sperma. In der vorpubertären Phase können Buben informiert werden über den Stimmbruch, über die verschiedenen Variationen des beginnenden Bartwuchses, über die Achterbahnen der Gefühle, über das verstärkte Interesse an Mädchen, über die Möglichkeit, auf andere Buben zu stehen, über ungewollte Erektionen und das phasenweise Eigenleben des Penis. Und, ganz wichtig: Über die große Bandbreite des Normalen. Es ist genau so normal, sich das erste Mal mit 13 rasieren zu müssen wie mit 18, als Elfjähriger den Stimmbruch zu haben wie als 17-jähriger. All diese kleinen, über Jahre verstreuten Informationshäppchen können eine mitfühlende Haltung den Buben gegenüber bekunden.
Wie war das damals bei mir?
Das können Mütter genauso leisten wie Väter. Die haben allerdings eine besondere Verantwortung. Männer teilen mit Buben gewisse Erfahrungen. Wenn sie sich dessen bewusst sind und an die eigene Geschlechtsreife zurückdenken, können sie Wege finden, Buben in ihrem Heranwachsen zu begleiten. Eine Untersuchung aus den USA bestätigt: Jungen, mit denen Männer (Vater, Cousin) im voraus über den ersten Samenerguss sprachen, fühlten sich besonders gut informiert. Das wiederum bietet Sicherheit und Orientierung. Und: Genau diese Buben gaben in den Interviews an, sich auch nach dem ersten Samenerguss bei den gleichen Männern weiter kundig gemacht zu haben. Sie wertschätzen deren Engagement also!
Die Erzählungen von Männern/Vätern aus der eigenen Bubenzeit bieten Jungen aber nicht nur Information und Halt. Zugleich liefern sie ein zukunftsträchtiges Modell für gelebtes Mannsein: Männer sind fähig, von sich zu sprechen, zu empfinden und nachzudenken – im Gegensatz zu manchem Testosteron-Roboter auf Bildschirmen oder Kinoleinwänden.
Solche Väter blicken also zurück, wenn sie wissen oder ahnen, dass ihr Sohn geschlechtsreif geworden ist: Wie war das bei mir? Wie entdeckte ich die eigene Geschlechtsreife? Was ging mir durch den Kopf? Auf welche Frauen stand ich damals? Mit diesen Fragen im Hinterkopf können sie ihren Sohn besser verstehen. Vor allem auch: wie wichtig es ist, ihm gerade in dieser Phase Sicherheit und Selbstwert zu vermitteln.
Dabei dürfen Väter durchaus achtsam sein ihren eigenen Geheimnissen gegenüber und nur über das sprechen, worüber sie wirklich sprechen wollen. Es gibt Themen, die wir auch unseren Söhnen nicht erzählen wollen! Wer lieber nicht über eigene Masturbationserfahrungen sprechen möchten, hat sich deswegen nichts vorzuwerfen. Wer seine eigenen Grenzen abtastet, wird auch die seines Sohnes zu achten wissen.
Thomas Rhyner