Wenn die eigenen Eltern alt werden
Sich mit dem Gedanken rechzeitig vertraut machen, dass die eigenen Eltern einmal alt werden – mit allen Konsequenzen, fällt nicht leicht, ist aber für alle beteiligten letztendlich hilfreich.
Satt Wandern Krankenbesuche
„Haus Mühlenhof, Schwester Gisela“ – der Anruf verhieß nichts Gutes. Wir waren gerade in der Oberpfalz angekommen, um eine Woche Urlaub zu machen, als das Handy klingelte. In der Tat: Anni, meine Schwiegermutter, wurde vor ihrem Bett liegend gefunden und ins Krankenhaus gebracht. So haben wir die Koffer wieder gepackt und sind nach Hause zurück. Statt Wandern im Bayerischen Wald morgens und abends Krankenhausbesuche...
Anni, inzwischen 88, hatte einen Schwächeanfall, verbunden mit einem Demenzschub. Sie hatte keine Orientierung mehr, wo sie war, riss sich die Infusionen aus dem Arm, räumte nachts fremde Kleiderschränke aus auf der Suche ihren Kleidern … Gut, dass wir uns zumindest jetzt keine Sorge mehr machen mussten, wie es nach dem Krankenhausaufenthalt weitergehen würde.
Das war aber nicht immer so
Meine Schwiegermutter wohnte mit ihrer Schwester zusammen im gleichen Stadtteil wie wir. Das Zusammenleben war relativ unkompliziert, wir haben uns gegenseitig besucht und hin und wieder gemeinsame Ausflüge gemacht. Als dann die Schwester starb, wurde so ziemlich alles anders. Meine Frau Astrid – sie ist die einzige Tochter – und ich hatten zwar schon oft miteinander überlegt, wie es einmal weitergehen würde, wenn eine der beiden Schwestern sterben würde. Doch mit ihnen war nicht darüber zu reden, dieses Thema war tabu, bis uns die Realität einholte. Als erstes war klar, dass Anni allein die bisherige Wohnung nicht würde halten können. Wir hatten noch Glück, denn in unserem Nachbarhaus wurde gerade eine kleine Wohnung frei. Ideal eigentlich, denn selbst bei Regen war der Weg ohne Schirm zu überwinden. So haben wir Anni ermuntert, immer mal auf einen Sprung vorbeizukommen, wenn sie vom Einkauf oder Spaziergang kam – tat sie aber nicht. Astrid hat sie unter der Woche zum Mittagessen gebeten – aber zwei Uhr, wenn unser Jüngster aus der Schule kam, war ihr zu spät. Astrid hat ihr auch gesagt, sie solle sich doch einfach dazusetzen, wenn sie bügele, da könne man sich doch gut dabei unterhalten – aber Anni wollte nicht stören. Statt dessen wollte sie förmlich eingeladen werden und dass in dieser Zeit das Alltagsleben stehen bleibt. Vor allem aber erwartete sie, dass Astrid sie besuchen komme. Mindestens zweimal täglich war Astrid am Schluss dort – es war immer noch zu wenig.
Zwischen allen Stühlen
„Nie bist du da“, lautete der gebetsmühlenartig wiederholte Vorwurf. Für Astrid wurde das zunehmend zur Qual. Wenn sie bei ihrer Mutter war, wurde sie von ihr psychisch unter Druck gesetzt, gönnte sie sich einmal einen freien Nachmittag und ging ins Hallenbad, hatte sie ein schlechtes Gewissen. Anders bei mir: Wenn ich „auf einen Sprung“ bei Anni vorbeischaute, wurde ich hofiert: „Ja, der Rudolf, der kümmert sich um mich. Was würde ich ohne den machen…“
Die Frage, was Anni selbst bewältigen muss – die Trauer um ihre Schwester beispielsweise und mit ihrem Alleinsein fertig zu werden, nachdem sie gut 15 Jahre als Witwen zusammengelebt hatten – und was wir tun können, um sie zu unterstützen, stand zunehmend zwischen Astrid und mir. Ähnlich, wie sich Astrid ihrer Mutter gegenüber hilflos fühlte, ging es mir ihr gegenüber. Irgendwann gingen mir Astrids Klagen nur noch auf die Nerven, und ich spürte, wie subjektiv empfundene Hilflosigkeit aggressiv machen kann. Zum Eklat drohte es zu kommen, als wir einen einwöchigen Urlaub antreten wollten – und sich meine Schwiegermutter drei Tage davor mittags ins Bett legte und verkündete: „Ich bin so schwach, ich glaube, ich sterbe.“ Astrid hatte zwar zuvor schon Vorsorge getroffen, wie Annis Versorgung während unserer Abwesenheit aussehen werde, geriet aber dennoch ins Schwanken. Hingegen war ich fest entschlossen, weder zu Hause zu bleiben noch allein in Urlaub zu fahren. Und ich bin heute noch froh, dass Astrid den Mut fasste und sich auch für den Urlaub entschied. Sie teilte dies ihrer Mutter mit, noch ehe der von uns gerufene Notarzt eintraf. Dieser bestätigte uns in Nachhinein, als er nach der Untersuchung feststellte, dass sich Anni subjektiv wohl schlecht fühlen könne, objektiv aber kein Befund vorläge. Es war eine gute und für uns beide wichtige Woche an der Ostsee, in der wir nicht angerufen haben, um uns nach dem Gesundheitszustand zu erkundigen – und in der auch kein neuerlicher Notruf kam.
Neue Probleme klopfen an die Tür
Nicht, dass nach dem Urlaub alles anders gewesen wäre. Aber Astrid konnte jetzt besser akzeptieren, dass sie deswegen keine schlechte Tochter ist, nur weil sie auch für sich selbst sorgt. Letztlich hat sich das hat auch auf unser Verhältnis zueinander positiv ausgewirkt.
Ungefähr ein Jahr später hatte Anni dann erstmals einen Schwächeanfall, der ein Alleinleben unmöglich machte. Dass Anni von sich aus das „Seniorenheim“ als eine mögliche Lösung angesprochen hat, trug viel zur Entspannung bei. „Du musst doch nicht jeden Tag kommen“ – das waren, sechs Wochen nach dem Einzug, ganz ungewohnte Töne in Astrids Ohren. Dennoch ist es nicht so, dass Astrid ihre Mutter jetzt weniger besuchen würde als zuvor, dass wir sie weniger bei uns zu Besuch hätten – das Wohnheim liegt zum Glück nur knappe 500 m von unserer Wohnung weg – aber es hat sich vieles entspannt. Auch wenn wir demnächst, sobald die Ersparnisse aufgebraucht sind, wahrscheinlich noch einmal anders „in die Pflicht“ genommen werden und die Ärzte inzwischen mehr an „objektiven Befunden“ feststellen, als uns lieb ist.
Alte Kontakte „reanimieren“
Als unsere Kinder klein waren, trafen wir uns regelmäßig in einem Familienkreis. Nachdem der Nachwuchs endgültig durch die Pubertät war, bröselte der Kreis, wir trafen uns erst seltener und irgendwann gar nicht mehr. Eigentlich ist es gar nicht so fernliegend, dass die dadurch entstandenen Kontakte und „stillen Freundschaften“ jetzt wieder zu einer Ressource wurden. Damals waren es die Kinder, die uns herausgefordert haben, jetzt sind es unsere alt werdenden Eltern. Wenn sich irgendwo im Dorf zwei „frühere Mitglieder“ treffen, sind sie schnell bei diesem Thema: „Wie geht es Efi und Udo? Da hatte seine Mutter doch auch einen Schlaganfall?“ Kein Wunder, dass Ulrike bald feststellte, wir müssten uns mal wieder treffen…
Rudolf Wohlfahrt