In kippliger Balance - Schwiegerfamilien
Was passiert eigentlich in den beteiligten Familien, wenn die Tochter der einen den Sohn der anderen heiratet? Zunächst einmal gerät das gewohnte Miteinander ins Wanken …
Sonntagmorgen bei Familie A.: Frau A. steht früh auf, deckt den Tisch, holt frische Brötchen und möchte mit der ganzen Familie ausgiebig frühstücken. Herr A. schläft lange; ihm reicht eine Tasse Kaffee, dann möch- te er schnell in den Gottesdienst. Sohn Chris(16) will nicht vor 12 Uhr aufstehen, Tochter Mia(8) hat ein Fuß- ballturnier und wird gleich abgeholt, Tochter Lisa(10) soll als Messdienerin mit in die Kirche, will aber lieber rumhängen.
Erfahrungen haben Spuren hinterlassen
In der Familientherapie schaut man auf diesen „ganz normalen“ Familienalltag, auf das Miteinander, sucht nach „Mustern“, ist neugierig auf unterschiedliche Sichtweisen und will Haltungen entdecken. Das, was sich hier zeigt, hat mit der Geschichte der Einzelnen zu tun, mit dem, was jede / jeder aus dem gemacht hat, was sie oder er in der Ursprungsfamilie erlebt und gelernt hat. Frau A. hat als Kind die Zeit mit ihren Eltern und ihrer Schwester am Frühstückstisch immer sehr genossen; es wurde gelacht, erzählt und gemeinsam geplant. Bei Herrn A. zu Hause war das Sonntagsfrühstück Pflicht; er hat die Stimmung immer als gereizt erlebt: Streitigkeiten der Eltern um Geld, Kritik an seinen schulischen Leistungen, Vergleiche mit seinen beiden größeren Brüdern, bei denen er immer schlecht weg- kam. Diese Erfahrungen haben Spuren hinterlassen.
Jeder Mensch ist über seine Herkunft eingebunden in die Geschichte seiner Vorfahren. Selbst das, was vor seiner Geburt in der Familie geschah und von dem er vielleicht nicht einmal weiß, kann einen Einfluss auf sein Leben und Erleben in der Gegenwart haben. Jede Familie „erfindet“ ihre Geschichte, schafft Mythen, entwickelt Überzeugungen und hält an Vermächtnissen fest, die sie explizit oder implizit weitergibt. Dabei sind nicht Ereignisse als solche wichtig, sondern die Bedeutungen, die Familien ihnen geben. Sie entwickeln so „innere Landkarten“ des Lebens und der Welt. Oft hilft die Vergangenheit, die Gegenwart zu erklären und eine Idee von der Zukunft zu bekommen. Es ist immer spannend, Menschen nach dem unausgesprochenen „Motto“ in ihrer Ursprungsfamilie zu fragen. Fast allen fällt spontan dazu etwas ein.
Jede Familie ist ein System mit eigener Dynamik
Ein Bild kann etwas von der Dynamik in einer Familie anschaulich machen. Stellen Sie sich vor, Großeltern, Eltern und Kinder befinden sich auf einer großen Plattform, die an einer Stelle auf einer Spitze auf liegt. Bewegt sich jemand, müssen die anderen das sofort ausgleichen, sonst entsteht eine Schräglage, oder die Platte stürzt sogar ab. Ein einmal gefundenes Gleichgewicht ist fragil; denn Menschen kommen hinzu, entfernen sich, suchen Distanz oder Nähe. Schon kleinste Veränderungen an einer Stelle führen dazu, dass weitere Bewegungen nötig werden, um die Balance neu zu finden. Dabei folgt jede Familie– jedes „System“ – der eigenen Dynamik. Es gibt kein „richtig“ oder „falsch“, sondern nur die Frage, ob die gefundene Balance „funktional“ ist, ob alle auf der Plattform eine Position innehaben, mit der sie gut leben können. „Keine andere Familie auf der Welt ist mit unserer identisch. Also müssen wir gemeinsam experimentieren, um einen Weg zu finden, mit dem wir alle zufrieden sind“, sagt der Familientherapeut Jesper Juul.
Was, wenn sich durch Heirat zwei „Familiensysteme“ miteinander verbinden?
Auf die neue Plattform treten dann mehr Personen als das Paar; gleichzeitig verlassen die Partner nicht einfach die Plattformen ihrer Ursprungsfamilie. Ganz schön kompliziert ist das!
Wer selbst in einer Partnerschaft lebt, hat das vielleicht schon einmal bemerkt: Je nachdem, wo Sie mit Ihrem Partner/Ihrer Partnerin zusammen sind, verhalten Sie sich anders, verändert sich Ihr Miteinander. Vielleicht lassen Sie sich bei Ihren Eltern alles hinterhertragen, während Sie bei den Schwiegereltern ständig aufspringen und mithelfen; in Ihrem eigenen Zuhause wiederum pochen Sie auf eine partnerschaftliche Arbeitsteilung. Vielleicht schweigen Sie bei Ihren Eltern, unterhalten sich mit den Schwiegereltern aus- gesprochen humorvoll und sind in der Beziehung eher der / die Diskutierfreudige. Vielleicht zeigen Sie aber auch, unabhängig von der Umgebung, ein immer ähnliches Muster. Beides, das Wechseln von Mustern wie das Beibehalten einer bestimmten Verhaltensweise, kann der Sicherung der Balance oder dem In-Bewegung- Bringen dienen; unbewusst suchen wir nach Ausgleich für ein gefährdetes Gleichgewicht oder sorgen für ein Ungleichgewicht, um eine Veränderung anzustoßen.
Schwiegerfamilie wird „mitgeheiratet“
Näher hingeschaut bedeutet „Mitgeheiratet“: Auf der Plattform der Eheleute haben beide (Schwieger-)Elternpaare einen Platz – auch wenn es real wenig oder gar keinen Kontakt gibt oder die eine oder der andere bereits verstorben ist. Vielleicht stehen die Schwiegerelternpaare ganz am Rande, vielleicht eine/r von ihnen sehr zentral, die Mütter nah, die Väter fern. Manchmal haben noch weitere Personen einen Platz: Geschwister, Großeltern, ein Onkel oder ein guter Freund der Eltern. Sie alle sind direkt oder indirekt daran beteiligt, Gleichgewicht zu halten oder das Finden eines neuen Gleichgewichts anzustoßen. Jeder Bewegung auf der Plattform folgt eine Veränderung, deren Richtung nicht vorhersagbar ist. Wenn zum Beispiel die Mutter der Ehefrau näher an ihre Tochter heranrückt, da sie krank ist und von ihr gepflegt wird, kann der Ehemann die Nähe seines Sohnes suchen, sich stärker an den Rand begeben (Überstunden machen …), seine eigene Mutter mehr ins Zentrum holen, sich stärker in die Betreuung der Kinder einbringen oder … – alles mit dem Ziel, ein neues Gleichgewicht zu finden. Vielleicht sorgen auch die Kinder dafür, indem sie mit schlechten Schulnoten, Rückzug oder auffälligem Verhalten mehr in den Fokus rücken oder durch Hilfe bei der Pflege oder im Haushalt für eine Veränderung sorgen. Für jede Situation gibt es eine Vielzahl von „Lösungen“. Welche ein System wählt, hängt von der Wahrnehmung, von der Bewertung der Situation, von Haltungen, Mustern und den daraus gebildeten „inneren Landkarten“ ab.
Lernfeld „Familie“
Familien haben viel gemeinsam mit anderen sozialen Systemen, sie unterscheiden sich aber auch. Für kein anderes Gefüge gilt der Satz von Martin Buber: „Der Mensch wird am Du zum Ich.“ gleichermaßen. In der Familie werden basale und prägende Erfahrungen gemacht. Besonders wertvoll ist die Erfahrung, ohne Vorbehalte und ohne Vorleistung geliebt und geachtet zu werden. Die Regeln eines fairen Miteinanders von Erwachsenen – für das Miteinander von Kindern und Eltern gelten hier andere Maßstäbe – durch einen Ausgleich von Geben und Nehmen und die Übernahme von Verantwortung werden erlebt. Die Vertrauenswürdigkeit, die so entsteht, wird spürbar. Hier lernen Kinder den Umgang mit Grenzen: den Grenzen, die Familien um sich herum errichten, der Grenze zwischen den Generationen und der Grenze, die die Privatsphäre jedes Familienmitglieds schützt. Kinder spüren, wie Krankheit, Tod, Sexualität, andere Kulturen und vieles mehr bewertet werden. Sie erleben, wie Feiertage, Sonntage, Alltag und Ferien gestaltet werden, welche Spiele, Geschichten, Speisen, Getränke, Musik dazugehören. All das und viel mehr wird nicht einfach wertfrei gespeichert, sondern diese Erfahrungen werden zu Erinnerungen mit einer starken emotionalen Einfärbung, die positiv oder auch negativ sein kann.
Es ist beispielsweise nicht egal, wie Weihnachten gefeiert wird – viele junge Paare feiern, zumindest so lange sie ohne Kinder sind, nach wie vor getrennt Weihnachten, jede/r in ihrem / seinem Elternhaus. Oft streiten Paare darüber, wie viel „Eigenes“ es in einer Beziehung geben darf, wo also persönliche Grenzen zu setzen und zu respektieren sind, oder wie offen die „Tür nach draußen“ ist. Auch die Vorstellungen, wie ein fairer Ausgleich von Geben und Nehmen aussieht, können weit auseinanderliegen. Das gilt nicht nur für die Frage der Gleichwertigkeit von Erziehungs- und Erwerbsarbeit. Solche Themen sorgen für Konflikte und regen so die Erweiterung von Haltungen und Einstellungen an.
Der „Stallgeruch“ der Herkunftsfamilie
Wenn wir unser Leben mit einem anderen Menschen teilen, müssen wir davon ausgehen, dass er seine Welt, seinen „Stallgeruch“ mitbringt, dass seine Herkunftsfamilie wie und wo auch immer einen Platz auf unserer Plattform hat. Hilfreich ist ein wertfrei- es Hingucken und Beschreiben der Andersartigkeit:
„Ach, so ist das bei Euch! “ Wenn es gelingt, die Andersartigkeit nicht als Bedrohung des Eigenen zu sehen, sondern als Anregung, stellt es eine Einladung dar, die eigenen Denk- und Handlungsmöglichkeiten zu erweitern und Strittiges fair auszuhandeln. Neugierde auf und Respekt vor der „inneren Landkarte“ der Person, die wir lieben, sind wertvolle Bestandteile eines gelingenden Miteinanders. Sie geben der Einzigartigkeit Raum und zeigen die Wertschätzung für die Person und für ihre Herkunft.
(Schwieger-)Eltern dürfen spüren, dass in unserer Kernfamilie andere „Regeln“ gelten, dass aus den Traditionen und Überzeugungen zweier Familien etwas Eigenes entstanden ist. Die amerikanische Familientherapeutin Evan Imber-Black bringt es auf den Punkt:
„Eine Familie ist keine Masse wie Milch, die homogenisiert wird. Eine Familie ist idealerweise ein Mosaik, in dem jedes einzelne Steinchen eine Kostbarkeit ist, die um ihrer selbst willen wichtig ist und die für das Ganze absolut notwendig ist.“
Gertrud Ganser ist Diplompsychologin, Systemische Therapeutin und Supervisorin.
Sie arbeitet als Referentin für Alleinerziehendenpastoral im Referat Ehe- und Familienpastoral des Erzbistums Köln, ist verheiratet und hat drei Kinder, einen Schwiegersohn und ein Enkelkind.