Werden, der ich bin

 Lebenskrisen bedeuten oft seelische Schwerstarbeit. Aber sie haben auch ihr Gutes: Sie helfen uns zu werden, der wir sind. Wir dürfen uns nur nicht dagegen sperren.

Das Gehirn auf Autopilot

Krisen machen uns ärmer. Sie sind Erfahrungen, die niemandem von uns erspart bleiben und uns nur zu oft völlig unver­mittelt treffen. Sie erschüttern uns, werfen uns auf uns selbst zurück. Sie sind eine Phase der in­neren Trennung von anderen Menschen, denn sie werden individuell und höchst unterschiedlich durchlebt und bewältigt. Nichts ist plötzlich mehr, wie es einmal war (oder schien?). Wir spü­ren schmerzlich den Verlust von vielem, was uns Halt gab: Gewohnheiten, Überzeugungen, Illusio­nen.
Krisen machen uns reicher. Sie sind ein (Neu-)Anfang, sie fordern unsere Lernbereitschaft heraus. Wir beginnen, Neues auszuprobieren, zu­nächst vielleicht zaghaft, aber unsere Sicherheit wächst, wenn wir es wagen, Fehler und Rück­schläge zuzulassen.
Wir entdecken vernachlässigte Potenziale in uns. Wir be­halten alte Fähigkei­ten, aber wir gewinnen auch neue Handlungs­möglichkeiten. Krisen fördern unser seelisches Wachstum, sie sind ein Übergang zu neuer Leben­digkeit und einer gewachsenen Identität.
Dies sind zwei höchst unterschiedliche Be­schreibungen des Begriffs Krise. Welcher ent­spricht eher Ihrem eigenen Erleben?
Wie wir letztlich Krisen bewerten, ist nicht nur eine Frage unserer Persönlichkeit, sondern es hat auch wesentlich mit der zeitlichen Perspektive zu tun.
Stellen wir uns vor, in einer Krise zu stecken – beurteilen wir sie also in der Situation selbst – so überwiegt das Gefühl der Unsicherheit. Wir füh­len uns bedroht oder gar ausgeliefert. Wir spüren einen Verlust, haben das Gefühl, ärmer geworden zu sein.
Betrachten wir dagegen eine durchlebte Krise später, mit zeitlichem und gefühlsmäßigem Ab­stand, so überwiegt meist das Gefühl, reicher ge­worden zu sein. Vorausgesetzt, wir haben den Ein­druck, diese Krise aktiv bewältigt zu haben, und können deren Sinn für uns und unsere Entwick­lung einordnen.

Schwerstarbeit für die Seele

Und genau das ist der entscheidende Punkt: die aktive Bewältigung einer Krise. Aktiv heißt hier nicht nur „tun“, sondern – oft viel schwieri­ger – es heißt vor allem auch „lassen“. Krisen durchlaufen einen be­stimmten Prozess, bei dem jede Phase ihren Wert und ihre Bedeu­tung hat und zu der Erfahrung beiträgt, letztlich  gestärkt aus ihnen hervorzugehen. Nur dass dieser Prozess keines­wegs geordnet verläuft, die einzelnen Phasen überschlagen sich, wiederholen sich, wir sprin­gen hin und her … Es ist schon schwierig auszu­halten, aber es lohnt sich!

Krisen sind Lebenswenden, die sich vielfältig unterscheiden. Es gibt die, die positiv besetzt sind und die wir aktiv herbeiführen: die Geburt eines Kindes, eine berufliche Herausforderung. Dann gibt es die Krisen, die nur negativ erlebt werden und die wir passiv erdulden müssen: den Tod ei­nes Nahestehenden oder den Verlust des Arbeits­platzes. Nicht zuletzt gibt es die Krisen, die sich leise nähern: Wir finden keinen passenden Le­benspartner, wir werden nicht schwanger. Hinter solchen Nicht-Ereignissen verbergen sich oft stille Tragödien, die Menschen verzweifeln lassen.
In jedem Fall erfordern diese Wendepunkte im Leben ein Höchstmaß an Flexibilität und Anpas­sung. Drei Schritte müssen bewältigt werden:

  • Ein Ende finden: Wir müssen uns von Gewohn­heiten verabschieden, von alten Einstellun­gen, bisherigen Beziehungen … Hier überwiegt der Blick zurück.
  • Eine neue Orientierung suchen: Wir brauchen eine Auszeit, müssen Gefühle von Verwirrung, Trauer, Chaos, Angst, Leere aushalten … Wir schauen nicht mehr zurück, aber auch noch nicht nach vorne.
  • Einen Neuanfang wagen: Eine neue Perspektive entwickelt sich, wir erleben uns und andere neu oder zumindest anders; unsere Wahrnehmung ist schärfer geworden, auch unsere Selbstwahrnehmung …  Wir richten den Blick nach vorne.

Was aber geschieht im Verlauf einer Krise?  Am Beispiel der von uns negativ erlebten kritischen Ereignisse möchte ich die Phasen beschreiben, die im Prozess solcher Krisen auftreten. Sie äh­neln sich bei allen, die von solchen Lebenswen­den betroffen sind. Diese Phasen stehen in direk­tem Zusammenhang mit der eigenen wahrge­nommenen (Handlungs-) Kompetenz.

Schock.

Krisen treffen uns unvermittelt und stürzen uns in Verwirrung. Die eigenen Wünsche oder Erwartungen stimmen nicht mehr mit der Realität überein und wir regieren verunsichert, oft wie gelähmt. Wir fühlen keine Handlungs­kompetenz mehr, alles ist fremd.

Verneinung.

Sehr schnell setzt dann ein seeli­scher Schutzmechanismus ein: „Das ist alles nicht wahr“ – dieser Gedanke dient dazu, dass wir erst einmal wieder handlungsfähig werden und relativ ruhig so tun, als ob alles wie immer sei. Wir reagieren wie auf „Autopilot“ programmiert, und das ist auch sinnvoll, denn das ermöglicht uns, Handlungsabläufe abzuspu­len (wie die Organisation einer Beerdigung), ohne innerlich wirk­lich beteiligt zu sein.

Verhandlung.

Wir beginnen zu ahnen, dass etwas Grundlegen­des sich verändert hat, aber wir hoffen auf Aufschub. Wir fangen an zu handeln: Wenn alles nicht wahr wäre, dann wären wir be­reit, etwas zu tun, was uns wirk­lich schwer fiele – zum Beispiel ein „besserer Mensch“ zu werden. Wir versuchen so, den alten Zu­stand wieder herzustellen. Aber Krisen lassen nicht mit sich han­deln: Geschehenes wird nicht in Ungeschehenes zurückgezaubert.

Aggression.

Diese Phase trifft uns wieder mit aller Wucht. Wir hadern mit unserem Schicksal („Warum gerade ich?“), fühlen uns als Opfer und somit wieder handlungsunfä­hig. Oft werden Fehler und Verantwortung in die­ser Phase außen gesucht. Durch diesen Blick zu­rück oder auf äußere Umstände können wir im­mer noch vermeiden, uns selbst der veränderten Situation anpassen zu müssen.

Annahme/Einsicht.

Wir begreifen langsam, dass nichts mehr ist wie vorher. Aber Vorsicht: Dieses Begreifen ist zunächst rein rational: „Ich muss mich ändern“ – aber will ich das wirklich? Wir wissen, dass etwas passieren muss, aber wir würden so gerne am Alten festhalten. Auf jeden noch so gut gemeinten Vorschlag anderer reagie­ren wir unweigerlich mit einem „Ja, aber…“. Wir denken in dieser Phase, aber wir handeln noch nicht. Trotzdem sind wir einen wichtigen Schritt weiter gekommen.

Trauer/Hilflosigkeit.

Jetzt kommt die wohl schwierigste Phase, die wir alle am liebsten umge­hen würden: das „Tal der Tränen“. Unsere wahr­genommene Handlungskompetenz tendiert ge­gen Null. Diese Phase der Hilflosigkeit ist nicht nur für die Betroffenen selbst, sondern auch für Außenstehende am schwersten zuzulassen und zu ertragen. Sie braucht Zeit und Geduld – wer hat die schon? Und doch ist es die entscheidende Phase: wird sie umgangen, so gelingt zwar mögli­cherweise oberflächlich betrachtet eine Verände­rung, aber das Herz oder die Seele werden nicht mitgenommen. Kleinigkeiten reichen dann, um uns aus der Fassung zu bringen, und es braucht immer größere (seelische) Anstrengungen, wie­der so zu tun, als ob alles in Ordnung sei.
Wer allerdings – ob mit oder ohne professio­nelle Hilfe – dieses Tal der Tränen durchschreitet, hat gute Chancen, das Erlebte zu integrieren. Hilf­reich sind dabei Rituale, die uns bei der Bewälti­gung der Krise unterstützen.
Gute Erfahrungen habe ich zum Beispiel in meiner Praxis mit einem „Trennungsritual“ ge­macht, bei dem der Klient mit viel Zeit und Sorg­falt aus der alten Si­tuation mindestens drei Dinge auswählt, die er als positive Er­kenntnis, Erfahrung oder Ressource in die neue Situation mitnimmt. So wird das Alte noch einmal gewürdigt und das Neue auf eine versöhnliche und konstruktive Wei­se bereichert.
Entlastend in dieser schweren Phase kann auch die Beibehaltung kleiner Kontinuitäten sein, mit denen wir uns immer wieder zwischen­durch bewusst eine Auszeit gönnen. Das können Gewohnheiten sein, die uns gut tun, aber den Ver­änderungsprozess nicht stören wie zum Beispiel Entspannungsübungen, das Hören der Lieblings­musik, ein Treffen mit Freunden…
Diese Trauerphase ist die Phase der inneren Auseinandersetzung, in der Mut, Fantasie und Ge­duld gefragt sind – von den Betroffenen selbst, aber auch von Nahestehenden oder Helfern.

Ausprobieren.

Jetzt ist es an der Zeit, neue Schritte zu wagen, neue Fähigkeiten und Verhal­tensweisen auszuprobieren. Wichtig ist hier die Erlaubnis zu träumen, Risiken einzugehen, Feh­ler machen zu dürfen. Denn natürlich wird es ne­ben guten auch in dieser Phase schlechte Erfah­rungen geben. Aber wir handeln wieder, und das stärkt unser Kompetenzgefühl.

Integration und Versöhnung.

Die Phase des Ausprobierens ist die Vorbereitung für den nächs­ten Schritt: Die Integration von „Kopf“ (Einsichten, Denkmuster), „Herz“ (Aggression, Trauer, Mut) und „Hand“lung (dem Ausprobieren neuer Verhal­tensweisen). Diese Integration ist eine wertvolle (Selbst-) Erfahrung, sie stärkt uns für zukünftige Krisen und versöhnt uns mit dem Durchlebten.
Trennen müssen wir uns allerdings von der Hoffnung, die Schritte eines solchen Bewälti­gungsprozesses in einer Krise gingen geordnet vo­ran. Je nach Ausmaß der Krise kann sich das langwierig gestal­ten, einzelne Phasen können sich wieder­holen, oder wir pendeln zwischen den Phasen im­mer wieder hin und her. So tasten wir uns eher Stück für Stück oder Schicht um Schicht voran. Das ist durchaus eine große seelische Herausfor­derung ohne Patentrezept für den konkreten Ab­lauf. Es ist Schwerstarbeit, aber mit Aussicht auf Erfolg, besser gesagt, auf reiche Ernte.

Aufbruch.

Im besten Fall hat sich am Ende einer Krise unser Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster erweitert. Die Wahlmöglich­keiten für unser Erleben und Verhalten erhöhen sich, und damit steigt unsere Flexibilität. Das wie­derum ist eine gute Voraussetzung für das Erle­ben zukünftiger Krisen, die sowieso kommen werden. Unsere innere Haltung ist entscheidend: ob wir Krisen akzeptieren oder versuchen, uns gegen sie zu sperren. Psychische Gesundheit und Lebenszufriedenheit hängen davon ab, wie gut es uns gelingt, solche Lebenswenden zu meistern auf unserem Weg, der zu werden, der wir sind. Wer einmal eine Krise durchlebt, durchlitten und bewältigt hat, wird bei allem Verlust letzten Endes innerlich gewachsen und reicher geworden sein.

Almut Brückerhoff