Krisen gehören zur Familie
Ein Gespräch mit Dörte Foertsch, Dipl.Psychologin, Paar- und Familientherapeutin und Lehrtherapeutin am Berliner Institut für Familientherapie / Systemische Therapie (BIF).
Was geht eigentlich in einer Familie vor, wenn „etwas passiert“ und das gewohnte Leben aus den Fugen gerät? Und was hilft Eltern dann wieder aus ihrem Problemstrudel heraus?
Nehmen wir zum Beispiel einen Teenager, der neuerdings des öfteren die Schule schwänzt – was die Eltern und andere in ihrem Umfeld natürlich als Problem empfinden. Wie kommt es zu solchen Störungen?
Aus systemischer Sicht würde ich sagen: Das Gleichgewicht in dieser Familie ist schon vorher durcheinander geraten. In Familien verändert sich ständig etwas, ohne dass sie deswegen gleich aus der Balance geraten. Es gibt aber Veränderungsprozesse, die Eltern und/oder Kinder als grundsätzlicher erleben, die Unsicherheit auslösen. Dann kann der eine oder die andere versuchen, durch ein „Symptom“, durch „auffälliges“, nicht der Norm entsprechendes Verhalten wie Schuleschwänzen das Gleichgewicht zumindest vorübergehend wiederherzustellen. In unserem Fall wäre das Schuleschwänzen also zwar ein Problem, gleichzeitig aber der Ver such, ein anderes zu lösen. Vielleicht plant die Familie gerade einen Umzug; das Schuleschwänzen könnte dann darauf hinweisen: Da ist jemand, der oder die die anstehenden Veränderungen nicht verkraftet; deshalb bricht er oder sie aus und versucht so, diese Veränderungen zu stoppen und erst mal wieder für Stabilität zu sorgen.
Ist das dem Teenager, der die Schule schwänzt, selbst bewusst?
Nicht unbedingt. Auf jeden Fall zielen derartige Verhaltensweisen und Interaktionsmuster darauf ab, das ganze System, die Familie, aufrecht zu erhalten. Tatsächlich führen sie manchmal dazu, dass Eltern sich wieder mehr miteinander, auch über ihr Kind, unterhalten, während sie vorher möglicherweise zu wenig miteinander gesprochen haben.
Sind Familien mit Jugendlichen besonders anfällig für solche Störungen? In diesen Familien verändert sich ja ständig etwas.
… und zwar nicht nur für die jungen Leute selbst. Wenn die Familie für sie immer mehr in den Hintergrund tritt und stattdessen Gleichaltrige, Freundschaften, Liebesbeziehungen und damit auch das Thema Sexualität immer bedeutender werden, ist das auch für die Eltern eine große Veränderung.
Wenn diese Ablösungsprozesse gelingen, zum Beispiel der nette Freund, die nette Freundin von allen in der Familie akzeptiert wird, muss sich niemand weiter darum kümmern. Doch
manchmal gelingen diese Veränderungen nicht in ausgewogenen Schritten. Dann versuchen Jugendliche möglicherweise, den Prozess vorübergehend zu stoppen oder aus der Familie auszubrechen, indem sie zum Beispiel Drogen nehmen oder schwanger werden. Wozu? Weil sich dann alle in der Familie um das „Problem“ kümmern und als Familie wieder näher zusammenrücken. Mit anderen Worten: Wenn jemand auf die „schiefe Bahn“ gerät, kann das eine Aufforderung sein, dass sich alle anderen wieder um ihn oder umeinander kümmern.
Was wirft Eltern in solchen schwierigen Situationen so aus der Bahn?
Viele Mütter und Väter haben den Satz „Eltern haften für ihre Kinder“ ganz tief verinnerlicht. Sie fühlen sich verantwortlich für alles und neigen deshalb in Krisensituationen dazu, sich schlecht zu fühlen. Sie tendieren dazu, sich selber als „schlechte“ Eltern zu sehen, die versagt haben. Dazu kommt, dass sie sich auch von ihrer Umwelt in Frage gestellt fühlen. Plötzlich fallen sie auf: im Verwandten- und Freundeskreis, bei Erzieherinnen und Lehrerinnen, unter anderen Eltern.
Manche Eltern reagieren auf Probleme in der Familie empfindlicher, andere gelassener. Warum?
Vorerfahrungen können eine wichtige Rolle spielen, zum Beispiel Trennungen, die Eltern selbst in ihrer Kindheit und Jugend als schwierig erlebt haben. Das Alter, in dem sie diese Erfahrung machten, spielt dabei keine Rolle. Man kann Eltern genau danach befragen: Wie ist es ihnen selbst ergangen, als sie so alt waren wie ihre Tochter oder ihr Sohn jetzt? Dann zeigt sich nicht selten: Phasen, die Eltern mit ihren Kindern als schwierig erleben, haben sie auch als schwierige Phasen in ihrer eigenen Kindheit oder Jugend erlebt. Darüber zu reden und das zu verstehen, hilft die aktuelle Situation zu bewältigen.
Ein typisches Beispiel sind Erfahrungen, bei denen die Eltern selbst wenig Handlungsspielräume hatten, etwa bei der Wahl ihrer Ausbildung. Dann neigen sie später dazu, auch ihren Kindern wenig Wahlmöglichkeiten einzuräumen und unangemessen zu reagieren, wenn die Kinder sie einfordern. Dagegen wirkt es für Familien ungemein entlastend, die Wahlmöglichkeiten um verschiedene Lösungswege zu erweitern. Menschen mit wenigen Alternativen geraten eher unter Druck als andere, die mehrere Optionen für sich sehen und akzeptieren können.
Trägt auch das Umfeld dazu bei, dass Eltern sich so bereitwillig als verantwortlich empfinden?
Ja, es kann den Druck auf die Eltern verstärken, indem es ihnen ihre Verantwortung vorhält. Institutionen wie die Schule, in denen ein Kind „auffällt“ oder etwas schief läuft, fordern nicht selten ein, dass die Eltern möglichst schnell für ein anderes Verhalten ihrer Kinder sorgen. Viele fühlen sich deshalb darauf verwiesen oder gar verpflichtet, Konflikte selbst zu lösen.
Dazu kommt, dass viele Familien unter großem beruflichem Druck stehen und dass damit nicht selten auch der finanzielle Druck steigt. Sie sollen mobil und flexibel sein und gleichzeitig bei all dem stabil bleiben; das ist manchmal ein ganz schöner Widerspruch. Andererseits gibt es für Eltern kaum einen Ort, wo sie über so intime Geschehnisse sprechen können. Gute Hilfsmöglichkeiten aufzusuchen ist manchmal eine große Hürde. Es gibt Familien, die das für sich spontan ablehnen; das ist ganz normal.
Fühlen Eltern sich manchmal auch deshalb so schlecht, weil ihr Idealbild von der „guten Familie“ in Frage gestellt wird, sobald nicht alles glatt läuft?
Ja. Dabei vergessen sie oft, dass ihr Familienleben viele Jahre völlig in Ordnung war und alle gut miteinander umgegangen sind. Und sie nehmen kaum wahr, dass Krisen Veränderungsmöglichkeiten beinhalten. Manche „behüten“ ihre Krisen sogar, weil eine Veränderung für sie schlimmer wäre, als alles beim Alten zu belassen.
Was ist für Eltern so verlockend daran, sich selbst in Frage zu stellen und schuldig zu fühlen?
Eigentlich gar nichts. Aber es stimmt, die Schuldfrage steht meist sehr schnell im Raum. Allerdings wird sie meist von anderen gestellt, und dann sitzt sie den Eltern auf dem Schoß.
Die Frage nach der Schuld entspringt dem Bedürfnis, eine Ursache für eine Störung zu finden. Systemisch suchen wir aber nicht Ursachen, sondern nach Zusammenhängen. Wir fragen also: Wie wirkt etwas zusammen? Wie spielen alle Beteiligten zusammen? Dann stellen wir plötzlich fest: Es gibt nicht die eine Ursache – und damit erweist sich auch die Frage nach der Schuld als nicht hilfreich.
Deshalb möchte ich ausdrücklich dazu verlocken, die Schuldfrage nicht zu stellen.
Für Nicht-Systemiker wirkt das eher befremdlich: Muss ich nicht die Ursache einer Entwicklung kennen, wenn ich die schmerzenden Folgen heilen will?
Nach Ursachen für eine Krise in einer Familie zu suchen ist nur sinnvoll, wenn ich gleichzeitig frage: Stecken in den Ursachen Perspektiven zu einer Veränderung, durch die die Familie ihre Situation wieder positiv beeinflussen kann? Ich frage also nicht nur: Wie kam das Problem zustande? Vielmehr frage ich nach den Möglichkeiten für alle Beteiligten, das Geschehen zu verändern. Deshalb wird in der systemischen Beratung und Therapie häufig diese Frage gestellt: Wie und was kann jeder und jede einzelne dazu beitragen, dass das Problem größer oder kleiner wird?
Vielleicht liegt es in unserer Kultur, dass wir dazu neigen, in der Schuldzuweisung stecken zu bleiben. Dadurch erhält die Schuldfrage eine so große Bedeutung. Im Systemischen fragen wir dagegen nur nach der Ursache, um den nächsten Schritt gehen zu können.
Und was passiert, wenn wir bei der Schuldfrage hängen bleiben?
Meist wird dann eine Person auf Dauer isoliert und zum Sündenbock erklärt. Das hilft, einen bestimmten Zustand aufrecht zu erhalten; alle anderen sind sich über den Sündenbock einig, das festigt auch ihre Beziehungen untereinander. Das heikle Thema wird an einer Person festgemacht, aber nicht mehr weiter kommuniziert.
Was kann Eltern helfen, wenn sie sich in einem Problemstrudel zu verfangen drohen?
Wenn sie das Gefühl haben, aus eigener Kraft nicht weiterzukommen, würde ich immer dazu raten, sich Unterstützung von außen zu holen. Familien fällt es oft sehr schwer, aus sich selbst heraus auf neue Ideen zu kommen. Jemand von außen hat es leichter, wird weniger von starken Gefühlen blockiert und kann den Blick eher über das alles beherrschende „Symptom“ hinausrichten.
Hilfe von außen wie eine systemische Therapie kann der Familie helfen, ihre Ressourcen (wieder) zu entdecken, ihre „Schätze“ zu heben. Und sie kann jeder und jedem Beteiligten helfen, einen neuen Blick auf ihre/seine Situation zu entwickeln.
Und was kann eine Familie für sich tun und wie kann sie Glauben an die eigenen Ressourcen gewinnen?
Es wäre gut, die Situation nicht zu dramatisieren oder den Kindern gar noch zusätzlich Angst einzureden, sie würden auf die schiefe Bahn geraten; solche Botschaften könnten sich am Ende als sich selbst erfüllende Prophezeiung erweisen. Dagegen macht es Mut, wenn Eltern sich an eigene schwierige Zeiten erinnern und ihren Kindern davon erzählen. Zu wissen, dass auch damals nicht alles glatt lief, kann alle entlasten, und Kinder oder Jugendliche sind oft erstaunt zu hören, wie es ihren Eltern damit erging.
Und es tut gut, sich nicht nur als „Familie in der Krise“ zu sehen, nicht alles auf das eine Problem zuzuspitzen, sondern auch andere Themen und Beschäftigungen zu entdecken und zu pflegen, die in solchen Zeiten schnell in den Hintergrund treten. Es darf sich nicht alles nur noch um eine Person, ein Problem, ein Thema drehen.
Um noch einmal auf das Familienbild zurückzukommen: Ist das auch eine Frage der Ansprüche, die wir an uns selbst stellen?
Um für das Leben zu lernen, muss man durch Enttäuschungen, Niederlagen und Misserfolge hindurch. Ich hätte ein Problem, wenn es hieße: In einer Familie darf es nie negative Erfahrungen geben. Dieser Anspruch wäre nicht menschlich. Allerdings gibt es eine gesellschaftliche Tendenz, schwierige Prozesse einfach auszublenden, so zu tun, als dürften Misserfolge, Enttäuschungen, Krisen auch psychischer Art nicht sein. Dabei können Menschen an solchen Situationen ungeheuer wachsen, auch Familien. Ich meine, wir sollten uns trauen, auch mal dagegenzuhalten, und dazu stehen, dass im Leben nicht alles glatt läuft.
Interview: Barbara Tieves