Menschen brauchen ihre eigenen Rituale

Fragt man Menschen nach Ritualen in ihrem Leben, dann fällt vielen zunächst gar nichts ein. Andere wehren ab: „Oh Gott Rituale!“ Und wieder andere meinen, das sei es ja gerade, dass sie eben leider keine Rituale hätten.

Vertraut, aber oft gar nicht bewusst

Rituale sind Verhaltensmuster und Handlungsabläufe, die wir für bestimmte Situationen zur Verfügung haben. Sie haben sich bewährt, oder wir haben sie übernommen. Sie haben eine Bedeutung, die über das konkrete Handeln hinausgeht. Oft ist uns diese gar nicht so bewusst. Die festgelegte Sitzsordnung bei den Mahlzeiten zum Beispiel symbolisiert die Ordnung in der Familie, die den Mitgliedern eine Form von Stabilität vermittelt.
In der Kindheit, so wissen wir, haben Rituale eine besonders wichtige Bedeutung. Sie sorgen für Sicherheit und Beständigkeit während einer Zeit voller Veränderung. Niemals ist eine Lebensphase so stark von Wandel geprägt wie die Kindheit. Der Lernzuwachs ist enorm, sei es im motorischen, sozialen, mentalen oder psychischen Bereich.

Rituale für die Entwicklung wichtig

Das Kind kommt unfertig zur Welt und lernt in kurzer Zeit das, was es zum Überleben braucht. Allmählich verringert sich die extreme Abhängigkeit von elterlichen Bezugspersonen. Feinmotorische und grobmotorische Fertigkeiten, Nahrungsaufnahme und Fortbewegung werden erlernt. Das Kind macht Erfahrungen im Umgang mit anderen, in Kontaktaufnahme und Selbstbehauptung. Es speichert permanent neues Wissen. Alles ist ständig in Bewegung. Zunächst ist alles neu, und noch viele Jahre lang ist vieles neu und ungeübt. Umso wichtiger ist in dieser Phase das, was vertraut ist, was berechenbar ist. Sei es in Form von Spielen, sei es das abendliche Ritual vor dem Schlafengehen oder die Geburtstagsfeier, die sich jährlich wiederholt, bestimmte Begrüßungsformen oder der feste Platz am Familientisch.

Welche Funktion haben Rituale?

Rituale strukturieren den Tagesablauf, den Wochenrhythmus und das Jahr. Damit erfüllen sie eine wichtige Funktion. Das Kind, das weiß, auf welche Weise die Mutter es begrüßen wird, wenn es nach Hause kommt, empfindet Sicherheit und Verlässlichkeit. Das immer gleiche Abschiedsritual morgens vor dem Kindergarten oder der Schule trägt dazu bei, dass der Tag gut anfängt. Kinder bestehen auf der Einhaltung ihrer Rituale.

Im Alter haben Rituale ähnlich wie in der Kindheit einen besonderen Stellenwert, weil sie das Geländer sind in einer Umwelt, die sich in rasantem Tempo verändert. Der Großvater, der jeden Sonntagmorgen in die Kirche zum Gottesdienst geht, lässt sich davon auch dann nicht abhalten, wenn seine Kinder ihn zum Ausflug einladen. Dann muss halt die Abreise verschoben werden. Wir nennen diese Alten manchmal starrsinnig und schütteln den Kopf über sie. Ihr Verhalten erscheint uns unvernünftig. Doch für sie sieht es ganz anders aus. Ohne die gewohnten Rituale würde das Leben an Stabilität und Sicherheit verlieren. Neues bringt viel Bewegung in den Alltag. Angst, Tempoverlangsamung ist charakteristisch für das Alter. Doch kommt es leicht zur Diskrepanz zwischen dem Innenleben und der Umwelt. Deshalb braucht es etwas, das die notwendige Struktur gibt: das immer gleiche Frühstück zur gleichen Zeit, der gleiche Spaziergang, der Mittagsschlaf zur gleichen Zeit usw.

Geht es eigentlich nicht allen Menschen so?

Jeden Morgen neu darüber nachzudenken, in welcher Reihenfolge der Tag am besten begonnen wird, das würde viel Energie kosten. Deshalb haben die meisten Menschen rituell geregelt, wie sie ihren Tagesanfang gestalten. Der Ablauf ist jeden Morgen gleich. Ähnlich verhält es sich mit anderen wiederkehrenden Aufgaben und Gegebenheiten. Die festgelegte Struktur und Wiederholung im Ablauf vermittelt Sicherheit. Werden wir darin gestört, etwa weil Besuch da ist oder weil wir auf Reisen sind, dann bringt das meistens eine Beeinträchtigung mit sich. Neue Situationen, für die wir keine Rituale zur Verfügung haben, können uns leicht irritieren. In Familien oder Kulturen, deren Gepflogenheiten wir nicht kennen, fühlen wir uns verunsichert und wie ohne festen Boden unter den Füßen. Wie peinlich kann es werden, wenn wir fremde Essens- oder Begrüßungsrituale nicht kennen und uns „daneben“ benehmen!
Dass Rituale seit einiger Zeit auf zunehmendes Interesse stoßen, mag zusammenhängen mit dem menschlichen Bedürfnis nach Stabilität und Sicherheit, nach Ordnung und Struktur, Verlässlichkeit und Zugehörigkeit.

Sinnstiftende Handlungen

Die symbolhafte Bedeutung, die über das konkrete Handeln hinausgeht, ist ein wesentliches Merkmal jeden Rituals. Bei der gemeinsamen Mahlzeit geht es eben nicht nur um das Essen. Der allabendliche Spaziergang eines Paars dient nicht nur der Gesundheit, sondern hat mit Gemeinsamkeit und Austausch zu tun und definiert den Stellenwert der Beziehung. In Ritualen wird sehr viel mehr ausgedrückt, als dies mit Worten allein möglich ist. Der Vater, der bei der Geburt seines ersten Kindes einen Baum pflanzt, wünscht dem Kind eine gute, glückliche Entwicklung, lebendiges Wachstum und Fruchtbarkeit. Die Symbolik der einzelnen Handlungen ist vielfältiger, als dies in Worten ausgedrückt werden könnte. Indem der Vater den Boden für den Baum aushebt, schafft er Raum und Wachstumsmöglichkeit. Indem er den Wurzelballen hineinlegt, sorgt er für Verwurzelung. Indem er ihn wässert, sorgt er für Nahrung. Indem er ihn vielleicht an einen Pflock festbindet, sorgt er für Halt. In vielen Ritualen werden Gegensätze zusammengebracht und so eine Form von Ganzheit ausgedrückt. Der Vater, der seinem Kind einen Baum pflanzt, setzt etwas aktiv in die Welt, vertraut es dabei aber zugleich etwas Übergeordnetem an, der Natur.

Rituale wirken durch die Handlung.

Etwas spielt sich nicht nur in unserem Kopf oder Herz ab, sondern wir tun etwas. Wir machen etwas sichtbar. Eine Frau hatte große Probleme, damit fertig zu werden, dass ihr Mann sie einer Jüngeren wegen verlassen hatte. Ihr half schließlich ein Ritual. Sie schrieb eine Liste von all den ungeliebten Dingen, die zu dem Leben mit ihm gehörten: seine Hemden bügeln, kurze Röcke und enge Jeans tragen, die sie nicht mochte, seine Eltern besuchen, von denen sie abgelehnt wurde, die Kinder zur Ruhe ermahnen, wenn er zu Hause arbeitete…Dieses Blatt faltete sie zu einem Schiffchen, ging damit zum Fluss und ließ es davon treiben. Dabei spürte sie eine tiefe Erleichterung. Das sinnbildliche Tun verändert im direkten Wortsinn die Anschauung und kann so problemlösend wirken. Solch eine besondere Handlung braucht meist eine lange innere Vorbereitung. Sie lässt sich nicht von heute auf morgen durchführen. Häufig gehört ein intensiver therapeutischer Prozess dazu, bis die innere Bereitschaft vorhanden ist, sich wirklich auf das Neue einzulassen.

Rituale in Übergangsphasen

Auf der einen Seite haben wir eine Vielzahl von häufig unbewusst ritualisierten Verhaltensweisen. Auf der anderen Seite fehlen uns für bestimmte Situationen und Krisenzeichen hilfreiche Rituale. Wir verfügen in unserer Kultur zum Beispiel kaum noch über Rituale für Entwicklungsübergänge wie Pubertät und Elternschaft. Initiationsrituale spielen zum Beispiel in vielen anderen Kulturen eine große Rolle. Sie markieren de Übergang des Jugendlichen ins Erwachsenenleben. Bei Naturvölkern besteht das Ritual in der zeitweiligen Isolation ohne Nahrung. Der Sinn ist, die Angst zu überwinden und den harten Anforderungen standzuhalten. In unseren westlichen Kulturen ersetzen Jugendliche den Mangel an Initiationsritualen durch Mutproben. Mögliche Formen stellen auch die Jugendweihe oder die Konfirmation dar. Die Erlangung des Führerscheins ist ein gängiges, aber nicht besonders geeignetes Ritual. Es fehlt uns offensichtlich an sinnstiftenden, zeichensetzenden Handlungen. Stünde einem Paar, das ein Kind bekommen hat, ein geeigneteres Ritual zur Verfügung als das mehr oder weniger ausgedehnte männliche Trinkgelage, dann fiele mit hoher Wahrscheinlichkeit der Übergang in den neuen Lebensabschnitt als Eltern leichter.

Trennungsrituale

Ein anderes Beispiel: Als Benjamin von seiner langjährigen Freundin verlassen worden war, wechselte er in einem rituellen Akt das Türschloss (sie hatte ihren Schlüssel mitgenommen) und fing an, bewusst seine Wohnung anderes zu gestalten. Er kaufte sich ein neues Bett und renovierte das Schlafzimmer von Grund auf. Dann lud er seine Freunde ein, um mit ihnen seinen neuen Status als Alleinlebender zu feiern. Neben dem persönlichen Abschiedsritual ist ein Anfangsritual wichtig. Etwas endet, nämlich das Leben mit dem bisherigen Partner oder der bisherigen Partnerin, und etwas Neues fängt an. Dadurch verändert sich auch die eigene Identität. Mit einem bestimmten Menschen zu leben, ist mit einer bestimmten Identität verbunden. Der Verlust des Partners bedeutet auch ein Stück von Identitätsverlust. Und damit zugleich die Chance für Neues, für Entwicklung neuer Aspekte der Persönlichkeit, die ein neues Identitätsgefühl hervorbringen können.

Tabu, Zwang und Manipulation

Bestimmte Rituale bieten einen klar abgegrenzten Raum für das, was üblicherweise nicht erlaubt ist. Die Streiche der Jugendlichen in der Nacht zum ersten Mai sind Ausdruck von Übermut und Fröhlichkeit, von „über die Stränge schlagen“. Außerhalb dieses Rahmens werden sie nicht geduldet. Das Gleiche gilt für die Aktionen der frischgebackenen Abiturienten nach der bestandenen Prüfung. Die Freude, der Leichtsinn und auch die Kritik an der machtvollen Instanz der Schule, die darin zum Ausdruck kommen, finden in dieser Weise ihren erlaubten Platz und würden außerhalb sanktioniert. Auch Karneval und Fasching sind rituell festgelegte Ausdrucksmöglichkeiten für das, was sonst nicht möglich ist. Die Lust zur Verkleidung und zum Rollenwechsel, Spott und Beschimpfung können ungestraft ausgelebt werden. An den Ritualen oder besser an ihrem Fehlen lassen sich aber auch die Tabus einer Gesellschaft ablesen. Offizielle Hochzeiten für homosexuelle Paare gibt es zum Beispiel nicht, auch kein Feierritual für die erste Menstruation oder Pollution.

Rituale können auch als Zwang erlebt werden

Natürlich gibt es Menschen, die mit vielen, und solche, die mit wenigen Ritualen leben. Je mehr Sicherheit jemand braucht, umso mehr Rituale wird er pflegen. Das kann im Extremfall bis zur Zwanghaftigkeit gehen. Wenn der Tagesablauf und der Umgang mit bestimmten Dingen ganz genau geregelt sind, dann ist das wie ein engmaschiges Gitter, an dem man sich festhalten kann. Gleichzeitig gibt es dann aber auch nicht viele Freiräume für spontanes Verhalten und Neuentscheidungen. Wenn die Spaziergänger ihren Spaziergang auch dann machen müssten, wenn einer von ihnen 40 Grad Fieber hätte, um sich zu beweisen, dass alles in Ordnung ist, dann wäre der Spaziergang zum Zwang geworden. Er wäre nicht mehr nützlich oder sinnvoll, sondern schädlich. Auch Familiensysteme unterscheiden sich darin, welche Gültigkeit und Bedeutung Rituale haben. Es gibt solche, bei denen von der Haushaltsführung bis zu Besuchsregelungen alles nach genau festgelegten Mustern abläuft, wo Mahlzeiten, Sitzordnung, Gesprächsführung usw. genau rituell geregelt sind. Solche Familien mögen den Eindruck erwecken, dass alles sehr starr ist, es wenig Raum für persönliche Freiheiten gibt. Da fühlen sich besonders Jugendliche leicht eingeengt.

Die manipulative Seite der Rituale

Wer früher jeden Sonntag zum Kirchgang gezwungen wurde, wer sich jeden Abend zur selben Zeit zum gemeinsamen Abendessen an den Tisch setzen musste, wer also ein streng ritualisiertes Familienleben hatte, dem wird möglicherweise der Sinn für Rituale abhanden gekommen sein. Rituale können eben auch suggestiv und manipulativ wirken und dafür auch bewusst eingesetzt werden. Ein erschreckendes Beispiel aus unserer Geschichte sind die Gruppen- und Massenrituale des Nationalsozialismus. Das menschliche Grundbedürfnis nach Gruppenzugehörigkeit ist eben auch anfällig für Manipulation. Wir kennen dieses Phänomen aus dem Bereich der Sekten, des Okkultismus satanischer Gruppen oder der schwarzen Magie. Rituale können auch zur Erhaltung von Tabus, zum einengenden Korsett oder zum destruktiven Machtmittel werden.

Rituale müssen mitwachsen

Wenn Rituale nicht mehr passen, ist eine Erneuerung notwendig. Augenscheinlich ist das bei Kindern. Rituale zur Schlafenszeit, Kindergeburtstage und Weihnachts- und Osterrituale müssen im Laufe der Jahre verändert werden. Den Gemeinschaftsspielen der frühen Kindergeburtstage folgen Geburtstagsausflüge der Acht- bis Zwölfjährigen und die Parties der Jugendlichen. Während in Familien mit kleinen Kindern das Schmücken des Weihnachtsbaums zum Weihnachtsgeheimnis gehört und Aufgabe der Eltern ist, übernehmen es später die Kinder selbst und überraschen oft die anderen damit. Sie entwickeln dabei vielfach ihre ganz eigene, besondere Weise, was die Farbzusammenstellung angeht oder die Art des Schmucks und bereichern so die Familientradition. Ähnlich ist es mit Ostern, wo das Eier- und Geschenkverstecken mit zunehmendem Alter der Kinder anderen Formen Platz macht.

Rituale müssen sich entwickeln

Wenn ein Paar sich zum ersten Mal begegnet, dann entwickeln sich in der Regel spontan Rituale, die für diese zwei Menschen typisch sind. Sie entstehen aus einer besonderen Bedürfnis- und Interessenlage heraus und haben die Funktion, die Beziehung zu definieren. Wenn Beziehungen in eine andere Phase kommen, dann entsteht auch der Bedarf an neuen Ritualen, die Nähe und Distanz, Ausgleich und den Umgang mit Konflikten regeln. Frischverliebte müssen neue ‚Rituale entwickeln, wenn sie Eltern werden. Beachten sie diese Notwendigkeit nicht, dann sind Konflikte und Entfremdung vorprogrammiert. Gleiches gilt für Eltern, deren Kinder erwachsen werden und das Haus verlassen. Auch sie müssen sich wieder auf eine neue Lebensform miteinander einstellen und die entsprechenden Rituale finden. Für alle Rituale gilt, dass sie beweglich sein müssen. Wenn Rollen, Regeln und Beziehungen sich verändern, müssen auch die Rituale angepasst werden. Nur dann bleiben sie segensreich und wirkungsvoll.

Margarethe A. Schindler