Mein verwilderter Garten

Zwischen der Suche nach Fußballschuhen und dem Streit um Computer-Zeiten sind die Familienschätze oft gut versteckt, seufzt Martina Heermann.

Manchmal träume ich davon, wie es wäre, keine Familie zu haben; wie das wäre, wenn die Halbwertszeit eines sauber gewischten Fußbodens über 30 Minuten läge, wenn das sonntägliche Radtourenziel ohne Spielplatzgarantie auskäme, wenn es ein Mittagessen ohne die Diskussion darüber gäbe, ob ausnahmsweise heute die Computerspielzeit vor den Hausaufgaben stattfinden könnte, wenn das mühsame Aushandeln einer gerechten Verteilung von Familienarbeit, Beruf und Hobby zwischen meinem Mann und mir einfach entfallen würde. Um aus diesem Traum wieder aufzuwachen, brauche ich keinen Wecker, dafür sorgt schon ein einfaches:
„Du, Mama, wo sind meine Fußballschuhe?“

Getragen in einem Netz von Beziehungen

Nein, meine Familie (mein Mann und unsere beiden Kinder) ist keine Schatzkiste, in die ich in jedem Moment hineingreifen und aus dem Vollen schöpfen könnte. In meinen Augen erscheint der Familienalltag eher als verwilderter Garten. Vieles darin haben wir gemeinsam gepflanzt und es ist gut gewachsen, anderes kümmert eher vor sich hin. Manches, was da blüht, ist uns einfach unverhofft zugewachsen, wieder anderes gedeiht prächtig, obwohl es uns nicht gefällt. Und dazwischen entdecke ich in diesem Garten tatsächlich immer wieder kleinere und größere Schätze. Sie liegen manchmal ganz offensichtlich da; andere muss ich mühsam ausgraben, und manche werden mir vielleicht immer verborgen bleiben.

  • Es ist ein Schatz, wenn mein Sohn nach einem Streit – wegen besagter Computerspielzeit – mich abends ganz leise fragt, ob wir uns jetzt wieder vertragen könnten. Na klar! Wir spüren beide, wie gut Versöhnung tut und wie wichtig es ist, sie auch auszusprechen.
  • Es ist ein Schatz, wenn Meinungsverschiedenheiten mit meinem Ehepartner mich nochmals selbstkritisch im Blick auf meine Vorstellungen und Lebenseinstellung werden lassen. Das fällt manchmal ganz schön schwer. Aber ich entdecke dabei, dass meine Sicht nicht die einzig mögliche ist; das macht mich vorsichtiger und umsichtiger in meinem Urteilen.
  • Es ist ein Schatz, wenn meine Tochter vor der Schule noch unbedingt mit mir kuscheln muss. Dass ich schleunigst auf den Zug muss, ist dabei für sie Neben- sache. Sie zeigt mir, dass der Augenblick wichtiger sein kann als alle Planung.
  • Es ist ein Schatz, wenn unsere Kinder durch ihre Großeltern erfahren, dass Werte und Einstellungen sich wandeln – auch wenn die Vermittlung zwischen den Generationen nicht nur konfliktfrei ist. Sie können lernen, dass Geschichte nicht nur in Büchern steht, sondern wir selbst ein Teil davon sind.
  • Es ist ein Schatz, wenn ich mich getragen weiß in einem Netz von Beziehungen, die immer wieder neu gestaltet werden wollen, die manchmal einengen, die neue Möglichkeiten eröffnen, die „einfach so“ geschenkt sind.

Manchmal lebe ich ein bisschen etwas von meinem Traum, indem ich mir Zeit jenseits von Familie gönne. Aber wenn ich davon „aufwache“, habe ich wieder richtig Lust auf Familienschätze.

Martina Heermann

ist Diplom-Theologin. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern (9, 11) in der Nähe von Stuttgart.