Großfamilie auf Entfernung
Manchmal kommt es uns so vor, als wenn es unter den Familien, speziell unter denen mit kleinen Kindern, ein Zweiklassensystem gäbe: die „Oma-Habenden“ und die „Nicht-Oma-Habenden“.
Unsere Familie: Eine multilokale Angelegenheit
Mit etwas Neid blicken wir dann auf die Familien, in denen Kino- oder Konzertabende der Eltern, Dienstreisen des Vaters und Berufstätigkeit der Mutter kein Problem darzustellen scheinen, weil es ein stets greifbares großfamiliäres Unterstützungssystem am Ort gibt. „Kinder brauchen ihre Großeltern“ lautet denn auch ein öfter zu hörender Slogan und die gestiegene Lebenserwartung der Großelterngeneration ermöglicht eine ganz neue Aktivität in dieser Rolle.
Nun ist es nicht so, dass wir keine Großeltern hätten oder diese sich nicht engagieren wollten. Aber berufliche Umstände haben dazu geführt, dass wir 500 Kilometer von Oma und Opa entfernt wohnen. Die Omas und Opas in Bayern, wir im Rheinland, die eine Tante im Schwäbischen, eine andere in Berlin: Großfamilie ist bei uns eine ziemlich multilokale Angelegenheit. Damit sitzen wir sozusagen zwischen zwei unterschiedlichen Tendenzen in Bezug auf das Familienleben: Einerseits ist da die gesellschaftliche Mobilitätsanforderung: Wer in einem hoch spezialisierten Beruf arbeiten möchte, dem bleibt oft nichts anderes übrig als dorthin zu gehen, wo es den entsprechenden Arbeitsplatz gibt. Das ist anstrengend, mit Familie nicht ohne Risiken und auch nicht beliebig oft wiederholbar. Aber es erweitert auch den Horizont.
Beziehungen aktiv gestalten
Andererseits ist in den zurückliegenden Jahren auch zu beobachten, dass der Zusammenhalt über mehrere Generationen in vielen Familien wieder mehr an Bedeutung und Wertschätzung gewonnen hat, als dies noch eine Generation zuvor der Fall war. Tatsächlich ist die Bedeutung der Großeltern ein Stück weit neu entdeckt mit neuen Möglichkeiten bereichert worden. Die Generationenkonflikte, die noch die 68-er mit ihren Eltern ausgefochten haben, scheinen sich doch sehr beruhigt zu haben.
Die gegenseitige innerfamiliäre Solidarität zwischen den Generationen hat Vieles für sich – zumal in einer Gesellschaft, in der es nach wie vor an „strukturellen Rücksichtslosigkeiten“ gegenüber Familien nicht mangelt. Familie hört ja mit der Kindererziehungsphase nicht auf. Die Kinder werden zwar erwachsen, aber die Eltern-Kind-Beziehung bleibt eine Konstante – oft für den Großteil des eigenen Lebens. Wenn Eltern und erwachsen werdende oder schon erwachsen gewordene Kinder sich in der Kunst einüben, diese Beziehungen positiv, eng und herzlich zu gestalten, entsteht hier ein „Schatz für das ganze Leben“ – mehr noch in emotionaler denn in materieller Hinsicht. Enkelkinder können zudem vieles zur Festigung dieser Generationengemeinschaft beitragen.
Einerseits - Andererseits
Was aber tun, wenn die innere Nähe über weite äußere Distanzen gedeihen soll? Da ist Ideenreichtum und eine zuweilen ausgeklügelte Logistik gefragt. Mittlerweile gibt es etwa verschiedenste Kommunikationskanäle, die genutzt werden können: Telefon-„Flatrates“ erlauben etwa den alltäglichen Sprechkontakt, Anrufbeantworter und Mailboxes machen zudem erreichbar. Die neuesten Kinderbilder werden per E-Mail verschickt (mit dem auch Großeltern zunehmend souverän umzugehen wissen), auch Kochrezepte und sonstige Tipps können auf diesem Weg ausgetauscht werden. Selbst die Bildtelefonie übers Internet rückt in den Bereich des Möglichen. Und dann gibt es natürlich das Reisewesen: Zum Opa, zu den Enkeln, zur Tante, zum Cousin, über die Feiertage, in den Ferien, auch ’mal am Wochenende zur Familienfeier. Das ist mit Kindern, Gepäck und allerlei Hausrat, der hin und her transportiert wird, nicht ohne Beschwer. Im Stau auf der Autobahn A3 oder auch nach dem verpassten Anschlusszug auf dem Nürnberger Hauptbahnhof kommt schon der Gedanke auf: Warum tun wir uns das an? Andererseits gibt es kaum etwas herzerweichenderes, als wenn unser Jüngster sich auf seine Oma freut, die er eine Zeit lang nicht gesehen hat. Auch, was die familiären Konflikte anbelangt, kann man unterschiedliche Schlüsse ziehen. Einerseits kann man sich auf die Distanz natürlich gut aus dem Weg gehen, wenn man aufeinander sauer ist. Der Gedanke, jetzt von den lieben Verwandten doch wieder einmal eine Weile Ruhe zu haben, hat ja zuweilen auch sein Gutes. Manche Beziehung braucht vielleicht sogar die Distanz, um sich entwickeln zu können. Andererseits besteht jedoch auch die Gefahr, dass Konflikte eben nicht konstruktiv ausgetragen, sondern innerlich aufgestaut werden. Wenn man sich nicht mehr begegnet, kann man auch nicht miteinander darüber reden, warum man sich geärgert hat. So geht man seiner Wege und wird sich fremd dabei.
Lösungen müssen gefunden werden
Eine gewisse Sorge überkommt uns zuweilen bei dem Gedanken, wie es wohl wird, wenn unsere (Groß-)Eltern in die Jahre kommen, in denen sie mehr Hilfe oder auch Pflege brauchen. Spätestens dann wird die räumliche Distanz noch einmal in ganz anderer Weise schmerzlich bemerkbar werden. Dann heißt es neue Lösungen für neue Probleme finden und ohne Mühen und auch den einen oder anderen bitteren Kompromiss wird es dann wohl nicht ausgehen. Auch da neigt man dann wieder dazu, die Großfamilien etwas zu beneiden, die an einem Ort beisammen sind. Auf der anderen Seite sehen wir aber auch, dass wir noch vergleichsweise nah beieinander leben. Das merken wir, wenn etwa eine Kollegin von der Heirat ihrer Tochter mit einem tüchtigen Kanadier berichtet oder wir uns vor Augen führen, dass die beste Schulfreundin unserer Tochter aus dem Kongo stammt und die Ferien bei ihrer Tante in Paris verbringt – die Chancen stehen nicht schlecht, dass die Globalisierung spätestens bei der Heirat unserer Kinder auch an unsere Tür klopft.
Franziska Zimmerer