Die unheilbare Last der Familie

Das macht die Familie so stark: Für sie zählt der ganze Mensch - nicht nur der Kunde oder Wähler. Doch die Pflicht, sich gegenseitig als höchst relevant zu nehmen, setzt die Beteiligten gleichzeitig unter hohen Druck.

Familie: ein ganz eigenes Ding

Familie, sagt man, gewähre Glück und Leid. Sie bürde Lasten auf, die ohne sie nicht getragen werden müssten. Sie schaffe Möglichkeiten zur Lebenserfüllung, die ohne sie nicht erreichbar wären. Darüber hinaus sei sie von zentraler gesellschaftlicher Bedeutung, ein förderungswertes und schutzwürdiges Gut.
Das alles sagt man häufig so daher, ohne sich zu fragen, wen oder was man denn eigentlich meint, wenn man „Familie“ sagt. Versucht man dann, sich bei der ersichtlich zuständigen Wissenschaft, der Soziologie, Antwort zu verschaffen, bekommt man generell die Auskunft: Die Familie der Gegenwart, die der modernen Weltgesellschaft also, sei ein ganz eigenes Ding, in vielen Hinsichten von allem unterschieden, was bis dahin als Familie beschrieben wurde. Die Systemtheoretiker unter den Soziologen würden gar hinzufügen: Familie sei ein überaus merkwürdiges, hoch kompliziertes System, das sich im Übergang vom Mittelalter zur Moderne herausgebildet habe. Das Merkwürdige läge darin, dass dieses System Schwierigkeiten ohne Ende biete, dass es nahe am Katastrophischen gebaut sei, ein System, das sein Scheitern selbst erwartbar mache und gleichwohl evolutionär überaus erfolgreich sei. Für diese besondere Art von Soziologie ist also das Erkenntnisinteresse gegründet auf dem Staunen darüber, dass dieses System funktioniert. Sie wundert sich nicht, dass Leute die Auffassung hegen können, dass die Familie eine Fülle von Lasten offeriert. Denn diese Belastung tritt ja schon auf der Ebene der Systemstruktur auf, sie ist fundamental, und sie ist deswegen in gewisser Weise nicht heilbar. Fast ließe sich formulieren: Diese Unheilbarkeit ist die Bedingung der Möglichkeit des Systems selbst. Das hieße auch: Darüber kann man nicht klagen, wieviel auch an sonst Beklagenswertem sich mehr oder minder zufällig und zeitbedingt einstellen mag.

Höchst erfolgreich nahe am Scheitern

Ein erster Schritt zum Verständnis dieser Annahmen ergibt sich daraus, dass die Familie – einmal in der Moderne angekommen – offensichtlich nicht mehr ausschließlich dazu dient, die Gattung zu reproduzieren. Es gibt mehr und mehr andere Wege, zu Kindern zu kommen und Kinder aufzuziehen. Ebenso wenig scheint es so zu sein, dass die Familie (wie es Mittelalter der Normalfall war) entweder die ökonomischen Stabilisierung einer Mehrheit von Menschen im sogenannten „ganzen Haus“ ermöglicht oder in den Zonen des Adels dynastisch zentrale Aufgaben übernimmt. Nicht minder deutlich ist, dass die Familie ihre einst wichtigste Funktion, Schichtzuordnung zu ermöglichen, ganz und gar verloren hat. Die Familie ist nicht mehr der Garant dafür, dass der in sie eingeborene Mensch einer bestimmten Schicht angehört, die ihn dann dauerhaft beheimatet, weil man sie nicht verlassen kann.
Fast sieht es so aus, als ob dieses System im Anbruch der Moderne hätte überflüssig werden können. Dass die Familie aber nicht entbehrlich wurde, erkennt man einfach daran, dass es sie noch gibt. Es muß ihr also gelungen sein, eine andere Funktionsstelle in der Gesellschaft zu besetzen, in deren Zentrum nicht mehr die ökonomische Subsistenz, nicht mehr die Reproduktion der Gattung, nicht mehr dynastische Interessen, nicht mehr die Zuordnung zu einer Schicht stehen.

Was aber dann?

Die These, die hier nicht mit all ihren Hintergründen entfaltet werden kann, ist: Die Familie übernimmt die Funktion der Komplettbetreuung der Person. Dieses System wird, wenn man so sagen darf, der Ort, an dem die Menschen im Unterschied zu dem, was ihnen in der modernen Gesellschaft sonst noch zustößt, als vollständig relevant aufgefasst werden - während sie überall sonst in der Gesellschaft (vielleicht mit Ausnahme der Religion) nur als Fragmente zählen: als Bankkunde, Vereinsmitglied, Konsument, Patient, Klient, Autofahrer, Wähler... In der Familie dagegen ist der Funktion nach jeder Mensch in allen familieninternen und familienexternen Bewandtnissen und in allen seinen Lebenshinsichten bedeutsam.

Wohlgemerkt: Dies ist keine Norm, kein Wert, keine Vorschrift, die erfüllt werden müsste, sondern eher eine Struktur, die sich daran bemerkbar macht, dass Abweichungen von ihr sofort pathologisiert, mitunter sogar kriminalisiert werden. Anders ausgedrückt: Das System Familie lässt die Kommunikation solcher Abweichungen nicht zu, ohne mit schwer wiegenden Störungen zu reagieren. Es kann nicht (ohne eben katastrophische Tendenzen) zu einem Kind, zu einem Ehemann, einer Ehefrau gesagt werden: „Du bedeutest mir nichts. Du bedeutest uns nicht. Was du tust, ist für völlig uninteressant.“ Die Familie, so könnte man mit Hartmann Tyrell sagen, ist die Institution, die Personen auf wechselseitige Höchstrelevanz verpflichtet, und sie ist darin – nachdem die Einrichtung der Freundschaft, der philia, mehr und mehr aufgegeben wurde – weitgehend konkurrenzlos.

Das hört sich gut an, hat aber den entscheidenden Effekt, dass dieser Anspruch (diese Funktion) Strukturen erzwingt, die ausschließlich unter hohen Kosten durchzuhalten sind. Man muss sich zum Beispiel nur darauf verständigen, dass die Komplettbetreuung von Menschen schon deshalb nicht möglich ist, weil sie über ein intransparentes, nicht einsehbares Bewusstsein verfügen. Kein Sozialsystem, also auch nicht die Familie, kann direkt auf irgendein Bewusstsein durchgreifen. Nicht einmal in der Hochform der Liebe zwischen zwei Menschen kommt es zu Verschmelzungen der daran beteiligten Bewusstseine. Und das bedeutet, dass an die Stelle einer gleichsam „realen“ Komplettbetreuung soziale Einrichtungen treten, die eben diese wechselseitige Berücksichtigung im Modus der Höchstrelevanz simulieren.

Die Verpflichtung zur Auskunft – und die Kunst des Schweigens

Eine Einrichtung dieses Typs ist der systemische Zwang, Auskunft über sich selbst geben zu müssen, ob man will oder nicht. Wenn man zum Beispiel im Rahmen einer Organisation gefragt wird, wo man gewesen sei, muss derjenige, der fragt, nachweisen, dass er zu dieser Frage berechtigt ist. „Was haben Sie heute nacht getrieben?“ – „Was geht Sie das an?“ – „Sie hatten Nachtdienst!“ Die Beweislast (der berühmte „burden of proof“) liegt auf der Seite des Fragenden. In der Familie dagegen kommt es zu einer Umkehr der Beweislast: Derjenige, der gefragt wird, muss nachweisen, dass er die Antwort verweigern darf. Die Ehefrau kommt nach Mitternacht nach Hause. Der Ehemann fragt, wo sie gewesen sei. Die Antwort kann dann (es sei um den Preis schwerwiegender Konflikte) nicht sein: „Das geht dich nichts an!“ Es versteht sich, dass auch Kinder unter diesen Auskunftsdruck geraten: „Was hast du in der Speisekammer gemacht?“ – „Das geht dich einen feuchten Staub an!“

Beteiligten Bewusstseine müssen „raffiniert“ werden

Wenn man darauf achtet, dass das System Familie diese Struktur realisiert – mit wenigen instruktiven Ausnahmen, etwa in Bezug auf Sexualität – kommt in den Blick, dass die beteiligten Bewusstseine „raffiniert“ werden müssen, wenn sie sich diesem Druck entziehen wollen. Sie müssen lernen, plausible Motive zu erfinden (oder lernen, dass bestimmte Motive nicht plausibel sind). „Was hast du in der Speisekammer gemacht?“ – „Ich dachte, ich hätte eine Maus gehört!“ – „Du hast ja noch Schokolade an den Zähnen!“ Bei dieser Gelegenheit kann man lernen, dass bessere Ausreden sinnvoll sind, und zugleich, dass die Wahrheit (zum Beispiel: „Ich finde es vollkommen bescheuert, dass ich die Schokolade erst heute Abend essen soll.“) kontraproduktiv ist. Wenn man die 15jährige Tochter fragt, was sie zwei Stunden lang mit ihrem Schulfreund in ihrem Zimmer getrieben hat, wird der Hinweis auf die morgige Mathematikarbeit sozial akzeptabel sein (was immer die Mutter, der Vater wirklich denken), nicht aber der Hinweis darauf, dass sie getan habe, wovon die „Bravo“ sagt, man müsse es getan haben (obwohl die Mutter, der Vater genau dies denken). Erhitzte Gesichter lassen sich auf die Anstrengung von Mathematikvorbereitungen so leicht zurechnen wie auf exerzierte Sexualität.

Enthemmte Kommunikation

In gewisser Weise kann man sagen, dass die Ausübung der Funktion der Familie die Kunst des Verschweigens stimuliert, die Fähigkeit, wenigstens eine Weile mit der Kommunikation anschlussfähiger Motive zu überzeugen, obwohl ganz anderes gedacht, geplant, erlebt werden kann. Die dazu erforderliche Raffinierung des Bewusstseins wird aber zugleich dadurch verschärft, dass man sich in Familien der Beobachtung kaum entziehen kann. Es ist ja gerade der Anspruch auf wechselseitige Höchstrelevanz, der Dauerbeobachtung der beteiligten Personen erzwingt. Nicht einmal Körperzustände sind davon ausgenommen, die ansonsten (außer in medizinischen Kontexten) nicht ohne weiteres Thema-fähig sind. „Du bist dicker geworden!“ Oder: „Noch ein paar Pickel, und du siehst aus wie ein Streuselkuchen.“ Oder: „Du könntest dir die Fingernägel auch mal wieder schneiden.“
Jedes Verhalten der Person kann (wieder: mit Ausnahme individueller Sexualität) Thema-fähig werden. Das lässt sich mit Niklas Luhmann enthemmte Kommunikation nennen, die dann das Problem mit sich bringt, wie die beteiligten Bewusstseine die Enthemmung enthemmen, es also schaffen, dass bestimmte Dinge nicht thematisiert werden. Das Ergebnis ist, dass die Familie (durch Dauerbeobachtung, Auskunftsdruck, durch enthemmte Kommunikation) verschweige-kompetentes Bewusstsein erzeugt und sich dabei entweder als genau darin gelingend erweist oder – wenn das Bewusstsein diese Komplexität nicht erreicht oder durch sie überfordert wird – zu kollabieren droht.

Zumutungen sind nicht erwartbar

Will man das positiv formulieren, so würde die Familie wie in einem Nebeneffekt soziale Intelligenz befördern und damit ihre Mitglieder (insbesondere die Kinder) auf die Welt der Organisationen vorbereiten. Legt man Wert auf negative Einschätzungen, würde man zunächst ein System beobachten, das unter Überlast fährt, weil es (anders als die meisten anderen Sozialsysteme) unentwegt genötigt ist, Personen als in jeder Hinsicht bedeutsam aufzufassen. Sieht man dabei ab von der sozialen Mythologie der Familie, die nach Kaffee und frischer Butter duftet, funktionierende Waschmittel kennt, schlammbedeckte Kinder freudig begrüßt, schnell gekochtes Fertig-Essen enthusiastisch feiert, Milchschokoladen verteilt und im großen Van glückstaumelnd in den gemeinsamen harmonisch-sportlichen Urlaub fährt, sieht man also von all dem ab, stellt sich die Frage, wie diese Überlast verdeckt wird. Was ist das Geheimnis, durch das all diese Zumutungen sozial ertragbar gemacht werden?
Die Antwort führt mitten hinein in eine Paradoxie. Zunächst einmal ist die Übernahme dieser Zumutungen nicht erwartbar. Sie ist unwahrscheinlich. In solchen Fällen bilden sich im Normalfall „Medien“ (genauer: symbolisch generalisierte Medien) heraus, die die Annahmewahrscheinlichkeit für unwahrscheinliche Sinnofferten steigern. Zum Beispiel ist es doch merkwürdig, dass mir irgendjemand etwas gibt, das ich gern hätte, es sei denn, das Medium Geld wird eingesetzt. Es ist kaum glaublich, dass jemand wissenschaftlichen Erkenntnissen traut (etwa über den Urknall), es sei denn, Wahrheit wird als Medium genutzt. Dass wir uns an kollektiv bindende Entscheidungen halten, wird durch das politische Medium der Macht ermöglicht. Dass wir Gegenstände schätzen, die keinerlei praktischen Zweck haben, Kunstwerke nämlich, wird durch das Medium Schönheit erreicht.

Nicht-Liebe ist ausgeschlossen

Die zentrale Unwahrscheinlichkeit (die eigentliche Zumutung) der Familie liegt darin, dass alle Beteiligten sich wechselseitig für höchstrelevant halten müssen. Der Ausdruck für hoch getriebene Ansprüche dieser Art ist: Liebe. Das Problem ist, dass die Familie es notwendig macht, nicht nur einen, sondern mehrere Menschen auf gleiche Weise zu lieben. Die Paradoxie ist, dass diese Form des Sozialsystems zur Liebe verpflichtet, also genau zu dem verpflichtet, wozu niemand verpflichtet werden kann.

Im Zentrum der Strukturbildungsprozesse der modernen Familie steht mithin obligatorische Liebe. Alle Strukturen und Prozesse dieses Systems gravitieren um diese Paradoxie. Praktisch heißt das, dass die Kommunikation von Nicht-Liebe ausgeschlossen ist („Das Kind geben wir zurück, es ist häßlich.“). Wenn sie auftritt, driftet das System auf seine Zerstörung zu.
Darüber könnte und kann sehr viel mehr sagen. Man kann als Soziologe die Komplexität bewundern, mit der die Familie die Paradoxie nicht auflöst, aber an ihre Stelle Schweige-Raffinessen so plaziert, dass es so aussieht, als könne tatsächlich jeder jede und jede jeden obligatorisch lieben. Man kann prüfen, ob in der Gegenwart es mehr und mehr möglich wird, die Paradoxie durch nüchterne Gesichtspunkte des bloßen Zusammenlebens (der Partnerschaft) zu ersetzen, also Emphase-Verluste zu verkraften. Hier genügt es festzuhalten, dass die Rede von den Lasten für eine Familie (wenn man nicht einfach so etwas wie Geldprobleme meint) sich auflösen lässt in gehaltvolle Aussagen über fundamentale Strukturen, durch die als möglich erscheint, was unmöglich ist: umfassende reziproke Liebe, zu der man verpflichtet wird, obwohl mit der Verpflichtung die Möglichkeit selbst dementiert wird.

Aber es ist ein alter und ehrwürdiger Gedanke, dass die Liebe unmöglich ist. Deswegen hatte man sie ja auch daran geknüpft, dass bei solchen Unmöglichkeiten ein Gott im Spiel sein müsste.

Peter Fuchs