Die Kunst nicht kreativ zu sein
Kreativität ist schön und gut. Aber nicht immer; sie kann sich zum Wert an sich entwickeln und ungeheueren Druck entfalten. Armin Bettinger beleuchtet ihre Schattenseiten.
Bitte keine Missverständnisse:
Es geht mir überhaupt nicht darum, den Wert kreativer Lösungen in belastenden Alltagssituationen und schwierigen Familienbeziehungen zu schmälern.
Und trotzdem: Vielleicht lohnt es sich, auch mit der Idee von kreativen Lösungen kreativ umzugehen. Das könnte heißen, sie nicht nur von vorne, von ihrer strahlenden Seite, sondern auch mal von hinten und von der Seite, sozusagen von ihren Schattenseiten her anzuschauen. Also zu fragen, ob Kreativität vielleicht nicht nur nützen, sondern eventuell auch schaden könnte und ob vielleicht gelegentlich auch ein Verzicht auf kreative Lösungen oder gar der Verzicht auf die Suche nach einer Lösung gut sein könnten.
Was ist überhaupt eine „kreative“ Lösung?
Zunächst einmal handelt es sich dabei um eine Beschreibung eines Beobachters. Wenn jemand von einer „kreativen Lösung“ spricht, dann haben wir es mit seiner „Landkarte“ zu tun, mit der er auf die Wirklichkeit schaut, und nicht mit der Wirklichkeit selbst. So beobachtet zum Beispiel jemand – entweder bei sich selbst oder bei jemand anderem – eine Veränderung: Zunächst gab es den Zustand A, dann gibt es den Zustand B. Und die Veränderung von A nach B beschreibt und erklärt er mit der Idee „kreative Lösung“.
Und diese Erklärung beinhaltet mindestens drei Aspekte:
- Erstens: Es hat sich etwas verändert.
- Zweitens: Das Neue ist – zumindest für irgendjemand – weniger problematisch als das Alte.
- Und drittens: Es gibt jemanden, der aktiv diese neue Situation geschaffen hat, der kreativ war.
Wenn aber eine „kreative Lösung“ immer die Beschreibung und Erklärung eines Beobachters ist, dann ist damit eigentlich schon klar: Dieselbe Veränderung könnte von unterschiedlichen Beobachtern ganz unterschiedlich, zum Beispiel als kreativ oder nicht-kreativ, als Lösung oder Nicht-Lösung beschrieben und gedeutet werden. Außerdem fließt der Kontext jeweils mit in die Deutung ein. Wenn der Beobachter ihn als immer gleich bleibend wahrnimmt, kann er eine Veränderung als „kreative Lösung“ deuten. Anders, wenn der Kontext ihm als ständig verändert erscheint; dann könnte er auch eine Nicht-Veränderung als „kreative Lösung“ deuten. Nehmen wir zum Beispiel ein Ehepaar, das seinen Beziehungsalltag über lange Zeit als gleich bleibend erlebt; dann könnte es eine kreative Lösung sein, für eine Veränderung zu sorgen, indem eine(r) der beiden die berufliche Stelle wechselt oder indem das Paar ein Kind bekommt. Für ein Ehepaar dagegen, das seinen Beziehungsalltag in ständiger Veränderung erlebt, das immer wieder mit neuen Herausforderungen, Problemen und Entwicklungsaufgaben beschäftigt ist, könnte es auch eine kreative Lösung sein, irgendetwas nicht zu verändern, sich zum Beispiel immer wieder einmal nach altbewährtem, immer gleichbleibendem Muster in vertrauter Weise zu streiten.
Manchmal kann die Suche nach „kreativen Lösungen“ sogar zum Problem werden. Denn sie hat ihre Schattenseiten:
• Kreativität als Wert an sich
Wo „kreativ zu sein“, „eine neue Idee zu entwickeln“, „Lösungen zu finden“ als unbedingt erstrebenswert angesehen wird, wo Kreativität zum Wert an sich wird, kann ein ungeheuerer Druck entstehen. Alle, die nicht genügend kreativ sind, sehen sich dann mit Anklagen und Schuldvorwürfen konfrontiert, und vieles, was nicht als „kreative Lösung“ verstanden wird, wird deswegen abgewertet – zum Beispiel Geduld und Vertrauen zu haben.
• Abwertung des Bestehenden
Ganz ähnlich droht im Licht von „kreativen Lösungen“, die ja etwas Neues, eine Veränderung hervorbringen, das bisher Bestehende, Alte, Gewohnte, Vertraute zu verblassen und an Wert zu verlieren. Dadurch können jedoch wertvolle Ressourcen verloren gehen.
• Handlungs- und Aktivitätsdruck
Der Ruf nach kreativen Lösungen drängt sehr schnell auf der Handlungsebene: Da muss jemand aktiv werden und etwas tun. Und was ist, wenn es erst einmal gut täte wahrzunehmen, zu fühlen, nachzudenken?
• Machtspiele
Beim Kreieren und Finden von kreativen Lösungen gerät leicht in Vergessenheit, dass gute Lösungen immer für bestimmte Beteiligte gute Lösungen sind, es aber nicht automatisch für alle sein müssen. Wer sich sozusagen in eine kreative Lösung verliebt, kann womöglich nicht mehr wahrnehmen, dass diese Lösung für andere Nachteile mit sich bringt oder sogar zu ihren Lasten geht.
Manchmal gerät auch jemand in eine besondere Macht-Position, wenn er merkt, wie sehr die anderen sich um kreative Lösungen für seine Probleme bemühen. Dabei können sich Muster herausbilden wie: Je mehr ich Probleme mache, desto mehr bringe ich die anderen dazu, sich noch mehr um kreative Lösungen für mich zu bemühen. Familienmitglieder, die nicht so „problembegabt“ sind, geraten bei diesen intensiven Anstrengungen um die „Problemkinder“ dann leicht ins Abseits.
Das heißt: Bei allzu intensivem Suchen nach „kreativen Lösungen“ können Fragen der Gerechtigkeit, der Verantwortung und der Solidarität in Vergessenheit geraten.
• Eindimensionalität
Wer nur in der Unterscheidung kreativ/nicht-kreativ oder Lösung/ Nicht-Lösung denkt und sich orientiert, der läuft Gefahr, wichtige andere Dimensionen und Grundunterscheidungen zu vernachlässigen wie Glück/Unglück, sinnvoll/ sinnlos, zufrieden/unzufrieden oder eben gerecht/ ungerecht.
Wäre es also nicht manchmal die kreativere Lösung, nicht nach kreativen Lösungen zu suchen? Was wäre, wenn ich die Idee aufgebe, unbedingt kreative Lösungen finden zu wollen (zu sollen, zu müssen), und nicht länger wie gebannt in Richtung einer Lösung schaue? Wenn ich stattdessen meinen Blick in andere Richtungen schweifen lasse? Welche anderen Dimensionen, Möglichkeiten, Ideen könnten mir in den Blick kommen, wenn es mir gelingt, nicht kreativ zu sein? Oder: Worin besteht die Kunst, nicht kreativ zu sein?
Ein paar Ideen dazu:
- Dasein. Anstatt etwas Neues zu suchen könnte es manchmal gut sein, einfach da zu sein, präsent zu sein. Vielleicht bekommt Aufmerksamkeit für andere in Beziehungen mehr Raum, wenn ich nicht sofort beim Kreieren von Lösungen bin.
- Wahrnehmen, was ist. Irgendwie eine Lösung schaffen zu wollen, kann manchmal leichter sein, als eigene Gefühle wie Angst, Ohnmacht, Hilflosigkeit wahrzunehmen.
- Genießen. Den Wert dessen, was gerade ist, auskosten statt auf Veränderungen in der Zukunft ausgerichtet zu sein …
- Die Seele baumeln lassen. Aus der Aktivität raus gehen, geschehen lassen.
- Entdecken, sich überraschen lassen.
- Beten. Vertrauen haben auf Kraft auch außerhalb von mir.
- Rituale vollziehen. Im immer Gleichbleibenden die Anstrengung fallen lassen. Im Gewohnten daheim sein. In festen Formen der Seele Raum für Tiefe, Intimität und Freiheit geben.
- Geduld haben. Sich und anderen Zeit geben.
- Aushalten.
Die folgenden Tipps wollen zeigen, wie man möglichst kreativ den Wert des Nicht-kreativ-Seins entdecken kann. Sie regen dazu an – im Bild gesprochen – sich im Glanz von kreativen Lösungen ein bisschen zu intensiv und zu lange zu sonnen, um dann sozusagen am Sonnenbrand am eigenen Leibe zu spüren, dass der Schatten ja auch seine guten Seiten hat.
Ein paar Tipps fürs ausgiebige Kreativitäts-Sonnenbad:
- Verabschieden Sie sich möglichst kreativ mindestens ein Jahr lang jeden Morgen anders von Ihrem Kind, wenn es in die Schule geht!
- Gestalten Sie die Zeiten und Orte Ihrer gemeinsamen Mahlzeiten in der Familie jeden Tag neu auf möglichst kreative Weise!
- Suchen Sie sich mit Ihrem Partner/mit Ihrer Partnerin jede Woche möglichst kreativ ein neues Streit-Thema! (Für Fortgeschrittene: Variieren Sie bei Ihrem wöchentlichen Streit möglichst kreativ auch Zeitdauer, Art und Weise und Ausgang des Streites!)
- Räumen Sie jede Woche neu kreativ die frisch gewaschene Wäsche in der Wohnung auf (vielleicht auch im Keller, auf dem Dachboden, auf der Terrasse…)!
- Erfinden Sie jeden Tag möglichst kreativ mindestens eine neue Erziehungsregel, damit die Beziehung zu Ihrem Kind anregend, fördernd, frisch und lebendig bleibt!
- Fordern Sie mehr Kreativität ein! Zum Beispiel könnte Ihr Partner/Ihrer Partnerin sich kreativer an der abendlichen Freizeitgestaltung beteiligen; mindestens an jeden zweiten Abend eine neue Idee könne man doch erwarten, oder?
- Führen Sie im Umgang mit Ihren Kindern ein Punkte-System ein: Für ein bisschen Kreativität gibt es einen Punkt, für höchste Kreativ-Kreationen zehn. Ein Kinderzimmer, in dem nur einzelne Schreibutensilien auf dem Boden kreativ angeordnet sind, wäre dann vielleicht drei Punkte wert, wohingegen schon acht bis neun Punkte zu erzielen wären, wenn auch die Inhalte von Kleiderschränken, Schubladen und Kommoden sowie Boden, Decke, Tische, Fenster und Lampen in ein höchst kreatives Arrangement einbezogen würden.
- Erfinden Sie noch mindestens weitere zehn solche Kreativitätsempfehlungen und halten sich dann ein Jahr lang daran! Oder gehen Sie doch gelegentlich lieber in den Schatten.
Armin Bettinger