Machen Sie’s anders!

Aufregen können Sie sich über Ihren pubertierenden Sprössling immer noch. Aber vielleicht betrachten Sie seine „Störungen“ vorher einmal durch eine andere Brille.

Pubertät - eine sich selbst erfüllenden Prophezeiung?

In der Kindheit gibt es zwei Abschnitte (Lebensalter), denen eine ganz besondere Bedeutung und damit Aufmerksamkeit zukommt: Trotzphase und Pubertät. Da wissen Eltern, dass das kein Zuckerschlecken wird, dass die „lieben Kleinen“ ziemlich widerborstig werden. Und niemand möchte das. Doch wenn die Kinder sich nicht so zeigen, dann, ja dann stimmt offenbar auch etwas nicht! Denn schließlich sind Kinder widerborstig in diesen Lebensabschnitten!

Sie merken sicher schon, worauf ich aufmerksam machen möchte: Pubertät ist in meinen Augen eine Art „Erfindung“ der Erwachsenen. Damit verbunden sind zugleich jede Menge Annahmen, was in der Pubertät „passiert“. Das hat ganz klare praktische Konsequenzen: Da ich weiß, was auf mich zukommt, erwarte ich auch, dass genau dies geschieht. So „hilft“ mir meine Erwartung, sehr sensibel und aufmerksam darauf zu achten, was davon tatsächlich geschieht. Anders gesagt: Dadurch, dass ich weiß, was kommen „soll“, erwarte ich es und achte genau darauf. Und eben das – eine psychologische Grunderkenntnis – führt dazu, dass diese Dinge auch tatsächlich eintreten, ganz im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung.

Ich glaube, es ließe sich auch anders damit umgehen, eingedenk des bekannten Satzes: „Wir glauben nur das, was wir sehen. Wir sehen nur das, was wir glauben.“ Es könnte sich nämlich um einen Zirkelschluss handeln.

Die Erfindung der Pubertät

Pubertät gilt als der Lebensabschnitt, in dem Jugendliche irgendwie nicht richtig dazu gehören – keine Kind mehr, noch keine Erwachsnen, und der Körper entwickelt sich in nicht gekannter Weise. Ich könnte Pubertät also auch als eine Phase sehen, in der viele und ganz neue Erfahrungen möglich werden.

Nun ist ein beliebtes Spiel im Miteinander – und auch in der Psychodiagnostik – die Suche nach der Schuld. Wir suchen nach Gründen, nach Ursachen und machen sie meist an Personen fest. Stört der Jugendliche, dann hat er irgendwie Schuld.
Stopp!
Hier könnten andere Perspektiven hilfreicher sein, denke ich. Ich meine tatsächlich „andere“ Perspektiven – es geht mir nicht um besser/ schlechter, gut / böse oder richtig/falsch, sondern um „anders“ im Sinne von (vielleicht) hilfreicher. Das beginnt bereits bei der Definition des „Störens“. Wer fühlt sich gestört? Doch zumeist ich, der Erwachsene, weniger der Jugendliche. Nur – warum sollte es immer nach meiner Mütze gehen? Wieso gilt immer die Sicht des Erwachsenen?

Eine etwas andere Perspektive könnte also sein, die „Störung“ positiver zu rahmen: Was ist mir in dieser Situation wichtig? Ich könnte mich aufgerufen fühlen, mehr über mich selber und meine Wünsche nachzudenken. Und mein „pubertierendes“ Kind hilft mir dabei, indem es mich zu diesem Nachdenken anregt. Dafür könnte ich, doch statt mich genervt zu fühlen, auch dankbar sein. Oder?

Eine noch andere Perspektive könnte es sein, einmal Rückschau zu halten. Wie war es, als ich „pubertierte“? Wie ging es mir damals? Wie sind meine Eltern mit mir umgegangen? Was hätte ich mir gewünscht, wie sie mit mir umgehen sollten? Das sind alles Fragen, aus denen sich Geschichten ergeben, Lebensgeschichten. Und Kinder und Jugendliche, auch „Pubertierende“, hören gerne Geschichten, besonders wenn sie von den eigenen Eltern handeln. Geschichten verbinden. Also warum nicht einfach mal Geschichten über sich erzählen, statt sich aufzuregen und zu schimpfen? Etwa beim Abendbrot. Mahlzeiten sind immer eine gute Gelegenheit.

Von den Sorgen bekommen die Kinder oft wenig mit – leider!

Mein Schlüsselerlebnis hatte ich leider erst, als unsere Kinder schon größer waren. Aber Einsichten, auch wenn sie spät kommen, kommen deshalb nie zu spät. Kurz gesagt, am Mittagstisch - eine Kollegin, mit der ich arbeitete, war zu Gast - sprachen wir, die Eltern über unsere Tochter. Allerdings waren weder die Tochter noch einer der beiden Söhne anwesend. Wir redeten über unsere Sorgen und welche Konsequenzen sich daraus für uns ergeben könnten. Wir wägten ab, spekulierten über Hintergründe und Folgen und kamen schließlich zu einer (elterlichen) Einigung.

An genau diesem Punkte platzte die Kollegin heraus – „Donnerwetter! Macht ihr euch Gedanken über eure Tochter! Ob sich meine Eltern auch so viele Gedanken um mich gemacht haben?“

Es dauerte einige Zeit, bis ich das verdaut und in Worte fassen konnte. Heute kann ich es leicht und flüssig. Was uns als Eltern oft das Leben schwer macht, ist: Wir überlegen, wägen ab, diskutieren, bis wir zu einer Entscheidung kommen. Von diesen ganzen Überlegungen bekommen die Kinder oft wenig mit. Sie bekommen die Entscheidung mitgeteilt. Meist nicht mehr. Nichts von unserer sorgenvollen Diskussion. Und wenn doch, dann erfahren sie zumeist wenig über die Diskussion, sondern hören eher die spätere, oft pädagogisch geglättete Zusammenfassung.

Wie war das damals bei mir?

Ich empfehle daher als Perspektivenwechsel, solche Diskussionen in Anwesenheit der Kinder zu führen. Sie sind dabei Zuhörer, aber keine Teilnehmer. Die elterliche Diskussion wird sozusagen „öffentlich gemacht“, und die Kinder haben die Möglichkeit, zuzuhören, wegzugehen – was auch immer. Erst wenn wir die Diskussion beendet haben, wenden wir uns den Kindern zu. Für Kinder ist es oft eine „andere“ Erfahrung, die Sorgen und Nöte der Eltern einfach einmal zu hören, etwas von ihren Gedanken und Überlegungen mitzubekommen.

Eine noch andere Perspektive könnte sein, die „Rollen“ (Eltern, Kind) – zumindest versuchsweise – zu wechseln. Also nicht gleich aufregen und in die Luft gehen, sondern in einem Gespräch die eigene Befindlichkeit und Ratlosigkeit darlegen: „Ich finden dein Verhalten nicht mehr angemessen. Du motzt nur ‘rum, hältst Dich an keine Regeln und erwartest, dass wir das gut finden und hinnehmen. Das kann ich nicht. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Drohen, strafen, aufregen – das bringt nichts. Das wissen wir beide. Ich weiß nicht weiter. Ich brauch’ deinen Rat. Was würdest du denn an meiner Stelle machen?“

Halten Sie inne und fragen sich, was Sie erreichen, wenn Sie sich aufregen!

Sicher, Sie werden nicht die ideale Antwort hören, vielleicht überhaupt keine. Doch eins ist, denke ich, geschehen: Sie haben etwas anders gemacht. Und diese kleinen Unterschiede stehen am Beginn jeder Änderung.

Und wenn auch das alles weder hilft noch Sinn macht? Halten Sie inne und fragen sich, was Sie erreichen, wenn Sie sich aufregen!

Pubertät, das war und ist doch eine Zeit, wo sich Kinder und Erwachsene näher kommen, oder? Denn Kinder entwickeln sich zu Erwachsenen, werden also mehr wie wir Erwachsenen. Ob das immer nur schön ist? Da könnten ein gewisser Zweifel und eine gewisse Skepsis angebracht sein …

Ach ja, bevor ich es ganz vergesse: Wenn Sie sich über Ihren Sprössling in der Pubertät aufregen, denken Sie bitte an zwei wichtige Sachen.

Zum einen, rein biologisch, stammt die Hälfte aller Anlagen Ihres Sprösslings von Ihnen; da gibt es gar keinen so großen Unterschied. Zum anderen ist es doch immer noch und immer wieder ein erstrebenswertes Erziehungsziel, selbständig zu werden und die eigene Meinung zu vertreten – was machen Sie und Ihr Sprössling denn anderes? Also – Glückwunsch zu diesem Erfolg!

Jürgen Hargens