Achtung Schamland

Warum Frau T. sich weigert, Lebensmittel für sich und ihre Zwillinge bei der Tafel zu holen. Und warum es einer besonderen Sensibilität bedarf, Familien in prekären Lebenslagen wirksam anzusprechen und zu helfen.

Um den 24., 25. wird’s eng, das weiß Frau T. aus Erfahrung. Wenn jetzt noch unerwartete Ausgaben anfallen… Aber im Normalfall schafft die 38-jährige alleinerziehende Mutter es, mit dem Unterhalt für ihre Zwillinge und dem Geld vom Jobcenter über den Monat zu kommen. Sie hat gelernt, mit dem Mangel zu wirtschaften. Nur eine Hilfe weigert sie sich strikt zu nutzen: „Die ,Tafel‘ grenzt direkt an den Schulhof der Kinder. Und ich riskiere nicht, dass andere Kinder mich da sehen und meine deswegen aufziehen.“

„Die größte Angst haben wir davor, erkannt zu werden. Man schaut nach links und nach rechts..., ob die Leute gucken oder nicht.“ Diese Beklemmung, „die sich durch Körper und Seele frisst“, beobachtete auch der Soziologe Stefan Selke bei ausführlichen Interviews mit „Tafel“-Nutzer*n (für sein Buch Schamland, Econ-Verlag 2013). „Die Welt stürzt ein, weil wir unseren Rollen als Vater, Mutter, Mann, Frau oder Kind nicht mehr gerecht werden.“

Armut frisst die Seele auf – das lässt sich nicht einfach durch ein paar Euro Hartz IV zusätzlich lösen. Armut bedeutet oft auch

» das Gefühl, trotz aller Anstrengung (zum Beispiel in „prekären“ Jobs) auf keinen grünen Zweig zu kommen,

» Erschöpfung durch den täglichen Kampf um die Deckung des Grundbedarfs,

» für Arbeitslose: kein Halt durch feste Zeitstrukturen im Alltag,

» Abhängigkeit von Ämtern, deren Verhalten oft als Willkür empfunden wird,

» wenig Erfahrung im Umgang mit Bildungseinrichtungen,

» und über allem: das Gefühl, nicht dazuzugehören.

Familien in dieser Lage zu helfen oder sie wenigstens nicht noch weiter auszugrenzen, erfordert Feingefühl: „Armutssensibilität“. Das brauchen nicht nur Sozialarbeiter* und andere Profis in Kitas, Schulen, Ämtern, Kirchen, Beratungstellen oder in der Familienbildung, sondern auch Mütter und Väter in Elternbeiräten, Pflegschaften, Vereinen, als Ehrenamtler* in Pfarrgemeinden und anderswo. Das gehört dazu:

» Basis-Wissen über die Gründe von Armut und typische Reaktionen der Betroffenen

Umso besser können Helfer* deren Verhalten richtig einordnen und auch versteckte Armut erkennen.

» Nachdenken über mögliche eigene Vorurteile und „Schubladen“

Was weiß ich über Armut, ihre Gründe und Folgen? Wie stehe ich zu Behauptungen wie „Wer Arbeit sucht, fi ndet sie auch.“ oder „Wer von Steuergeld lebt, darf keinen Luxus erwarten.“?

» die Bereitschaft, die Betroffenen persönlich anzusprechen

…, weil allgemeine schriftliche Einladungen oft an ihrer Scham und an Schwellenängsten scheitern.

» ein respektvoller Umgang „auf Augenhöhe“

Das heißt vor allem: alles vermeiden, was die Angesprochenen kränkt oder in eine Ecke stellt. „Wir helfen, aber wir haben keinen Erziehungsauftrag“, erklärt ein Tafel-Mitarbeiter. Wichtig sind auch Diskretion – nichts tun ohne Zustimmung der Betroffenen! – und Hilfe zur Selbsthilfe, die Menschen also zu ermutigen, selbst aktiv zu werden.

» ein Überblick über weiterführende Hilfen vor Ort

Dazu gehören Fachdienste bei Behörden und Wohlfahrtsverbänden (wie Caritas oder Diakonie) ebenso wie „Tafeln“, Kleiderstuben und Initiativen, die Familien als „Paten“ unterstützen.

» den Abbau von Zugangsbarrieren im Bildungs- und Freizeitbereich

Für Hartz IV-Bezieher* können selbst die Anschaffung von Fußballschuhen oder 80 Euro für eine Ferienfreizeit zum finanziellen Kraftakt werden.

» die Schaffung von Kontakt- und Begegnungsmöglichkeiten

…, die nicht nur einen Austausch unter gleich Betroffenen und Hilfen auf Gegenseitigkeit ermöglichen. Sie vermitteln vor allem das Gefühl, willkommen zu sein und dazuzugehören!

Wie sich Armutssensibilität wecken lässt, demonstrierte eine Ausstellung der Katholischen Jugendagentur Bonn (www.kja-bonn.de). Eine der Stationen forderte die Besucher* heraus, für eine vierköpfige Familie alle Mahlzeiten eines Tages mit dem Hartz IV-Satz „einzukaufen“; der beträgt heute (für Mutter, Vater und zwei Kinder zwischen 6 und 14) 16,40 Euro. Schaffen Sie’s?