Leben auf Probe - Ist die Pränataldiagnostik auf dem Weg zur Selektionsmedizin?

Was vor sechzig Jahren als Initiative zur Senkung der Mütter- und Säuglingssterblichkeit begonnen hat, scheint zum Baby-TÜV geworden zu sein.

Unsere Mütter und Großmütter sprachen von Schwangerenvorsorge und meinten die regelmäßige Kontrolle von Puls, Blutdruck, Gewicht sowie von Blut- und Urinwerten. Wir sprechen von Pränataldiagnostik und meinen die drei in den Mutterschaftsrichtlinien verankerten Ultraschalluntersuchungen, den Triple Test zur Früherkennung des Down Syndroms, die das Ungeborene gefährdende Fruchtwasseruntersuchung, bei der sein zu erwartender Gesundheitszustand verblüffend genau festgestellt werden kann und weitere Untersuchungen. Was vor sechzig Jahren als Initiative zur Senkung der Mütter- und Säuglingssterblichkeit begonnen hat, scheint zum Baby-TÜV geworden zu sein.

Dabei bietet die Pränataldiagnostik klare Chancen

Das zeigen auch die statistischen Daten. Die weitaus größte Zahl der Ultraschalluntersuchungen verweist auf ein gesundes Kind und zerstreut die Ängste der Eltern. In rund ein Prozent der Fälle helfen diese Untersuchungen, sich auf eine schwierige Geburt vorzubereiten, etwa auf die Ankunft eines Kindes mit einer Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte oder einem Herzfehler. Genau so oft zieht die Ultraschalluntersuchung eine Behandlung im Mutterleib nach sich. Denn es gibt inzwischen eine wachsende Zahl an Krankheiten, die bereits vor der Geburt des Kindes zu dessen Wohle behandelt werden können. In 1,1 Prozent der Fälle führt die Ultraschalluntersuchung allerdings zu einem Schwangerschaftsabbruch. Die Indikation: Die festgestellte Missbildung des Ungeborenen wird die Mutter derart belasten, dass sie mit schweren gesundheitlichen Schäden rechnen muss, wenn sie das Kind austrägt.

Bei diesen 1,1 Prozent zeigt sich der ganze ethische Sprengstoff der Pränataldiagnostik. Führt die Pränataldiagnostik zum Schwangerschaftsabbruch, gehört sie nicht mehr zum ärztlich legitimierten Heilauftrag. Der Arzt wendet kein Leid von dem ungeborenen Kind ab, sondern er wendet dessen Geburt ab. Des Weiteren stuft das geltende Strafrecht die Gesundheit der Mutter höher ein als die Gesundheit des erwarteten Kindes und konstruiert daraus eine medizinische Indikation. Die Ängste und Sorgen einer Mutter, die sich beim Leben mit einem behinderten Kind ergeben werden, werden zu Krankheiten stilisiert und als Legitimation für den Schwangerschaftsabbruch benutzt. Dabei haben die Frauen, die sich nach einer Pränataldiagnostik für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden, zumeist nicht ihre eigene Gesundheit im Blick sondern ihre Selbstbestimmung. Bei einer Befragung sahen es 95 Prozent der Frauen als Vorteil an, durch die Diagnostik selbst darüber zu verfügen, ob sie ein behindertes Kind zur Welt bringen wollen oder nicht. Auch die Ärzte sind heutzutage zunehmend unter Druck. Ihr Haftungsrecht verpflichtet sie dazu, die Frauen umfassend über alle diagnostischen Möglichkeiten aufzuklären. Tun sie das nicht und ist das Kind behindert, müssen sie mit Schadensersatzansprüchen bis hin zum vollen Unterhalt rechnen. Vorgeburtliche Selektion ist demnach eine Realität in der Bundesrepublik, auch wenn es nicht immer so deutlich gesagt wird.

Muss man jetzt davon ausgehen, dass wir auf eine Situation zusteuern, in der die Geburt eines Kindes nur noch davon abhängt, ob es den Vorstellungen der Eltern oder den Erwartungen der Gesellschaft entspricht?

Angesichts der immer differenzierteren genetischen Diagnostik - heute sind immerhin zweitausend Erbkrankheiten auf Genebene bekannt und über hundert deutsche Labors widmen sich deren Nachweis -  ist diese Sorge nicht unberechtigt. Eine bei der Berlin Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften angesiedelte interdisziplinäre Arbeitsgruppe hat zu dieser Frage unlängst interessantes Material zusammengetragen. Dazu zählt eine Untersuchung darüber, welche medizinischen Gegebenheiten als Grund für einen Schwangerschaftsabbruch gerechtfertigt erscheinen. Befragt wurden Humangenetikerinnen, die als Fachleute mit der vorgeburtlichen Diagnostik zu tun haben und Frauen, die eine genetische Beratung in Anspruch genommen haben. Umfrageergebnisse existierten für die Jahre 1992-1994 und für das Jahr 2002.

Selektive Einstellung vorhanden

Obwohl diese Ergebnisse nur Momentaufnahmen sind, kann man daraus ablesen, wie sich die Einstellung zu gewissen Fehlbildung über einen Zeitraum von zehn Jahren verändert hat. Die Einstellung zum Down-Syndrom ist gleich geblieben. Rund Zweidrittel der Ärztinnen und Frauen sehen darin einen Grund zur Abtreibung. Die Akzeptanz der Mukoviszidose, eine Erkrankung der Lunge, die heute besser behandelt werden kann, ist dagegen gestiegen. Sie wird seltener als Grund für eine Abtreibung genannt. Als bedrohlich gelten neurologische Erkrankungen, auch wenn sie erst nach einer langen Phase der Gesundheit auftreten. Chorea Huntington etwa, eine Erkrankung, die sich erst im fünften Lebensjahrzehnt manifestiert und dann innerhalb einiger Jahre zum Tode führt, ist für die Hälfte der Humangenetikerinnen und ein Drittel der Frauen ein Grund zur Abtreibung. Auch die Veranlagung für Alzheimer, eine Erkrankung, die erst am Lebensende auftritt, ist für nahezu jede zehnte Befragte in beiden Gruppen ein Grund die Schwangerschaft zu beenden. Jede zwanzigste Frau und jede fünfzehnte Humangenetikerin würde auch ein Kind mit Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte abtreiben, obwohl diese Fehlbildung heute gut zu korrigieren ist. Ähnlich ist die Situation bei den Anomalien der Geschlechtschromosomen. Diese werden in der Medizin nicht als schwerwiegend eingestuft, weil sie ihren Träger zwar unfruchtbar machen, das Leben aber ansonsten kaum belasten. Trotzdem werden sie relativ häufig als Grund für eine Abtreibung genannt.
Diese Daten zeigen, dass bei vielen Frauen eine selektive Einstellung vorhanden ist. Sie zeigen allerdings auch, dass die Bereitschaft zur Abtreibung bei Befunden mit geringem Krankheitswert sinkt. Das Geschlecht des Kindes ist bei diesen Befragungen nie als Grund für einen Schwangerschaftsabbruch genannt worden. Zudem gibt es eine relevante Minderheit von Frauen, die einen Abbruch grundsätzlich ablehnen. Nach den von der interdisziplinären Arbeitsgruppe zusammengetragenen Daten existiert auch ein Unterschied zwischen der im Vorfeld geäußerten Einstellung gegenüber einem Schwangerschaftsabbruch und dem was die Frauen tatsächlich tun, wenn sie mit einer Fehlbildung konfrontiert werden. Dann werden weniger Schwangerschaften abgetrieben, als dies nach den Einstellungen zu erwarten wäre.

Hildegard Kaulen

Zitierte Ergebnisse in:

Gentechnologiebericht
Analyse einer Hochtechnologie in Deutschland
Forschungsberichte der Interdisziplinären Arbeitsgruppen
Hrs. Berlin Brandenburgische Akademie der WissenschaftenElsevier Spektrum, Akademischer VerlagISBN 3-8274-1675-2