… aber nicht allmächtig
Mit Antworten auf „letzte“ Fragen ihrer Kinder tun sich viele Eltern schwer. Aber selbst im besten Fall sind sie für den Erfolg von religiöser Erziehung nicht haftbar.
Auseinandersetzung mit Kinder-Fragen
Stellen Sie sich vor: Sie stehen in der Schlange an der Supermarkt-Kasse. Und plötzlich fragt Ihr Vierjähriger Sie: Kommt Opa wirklich in den Himmel? Auch ohne hinzusehen wissen Sie: Alle, die vor, hinter und neben Ihnen auf die Abfertigung warten, spitzen die Ohren. Es ist eben alles andere als alltäglich, fast schon eine Sensation, in einer solchen Öffentlichkeit Glaubensfragen zu erörtern, die doch als höchst intim empfunden werden! Allerdings wurzeln die Schwierigkeiten vieler Eltern, sich auf solche Kinderfragen einzulassen, nicht allein im unpassenden Moment. Die allermeisten spüren sehr wohl: Zur Förderung des Wohls meiner Kinder gehört nicht nur die Sorge für das Nützliche – etwas zu essen, anzuziehen, ein Dach über dem Kopf. Es verlangt auch Antworten oder zumindest eine Auseinandersetzung mit allem, was Kinder fasziniert, staunen lässt und fragen macht. Wer bin ich? Wer darf ich sein? Wer oder was ist Gott? Was kommt nach dem Tod? Warum beten wir in der Kirche und Sedats Familie in der Moschee? Und andere überhaupt nicht?
Die „Erziehungs-Unfälle“ der Vergangenheit
Doch neben der Verantwortung, dass sie ihren Kindern Antworten auf diese Fragen schulden, spüren Eltern gleichzeitig Verunsicherung und Überforderung. Aus verständlichen Gründen.
In ihren Kindern begegnen Eltern der eigenen Kindheit – das gilt auch für die religiöse Erziehung. In dieser Wiederbegegnung liegen wichtige Chancen für die Einfühlung in das Kind, zugleich können daraus jedoch auch Hindernisse für religiöse Erziehung erwachsen. Dann nämlich, wenn Eltern diesem Stichwort zuerst an Zwang und Einschränkung denken; darin spiegeln sich häufig Erfahrungen in der eigenen Kindheit.
Zahlreiche Erfahrungsberichte haben deutlich gezeigt: Auch bei der religiösen Erziehung kann es Unfälle geben. Menschen berichten von schmerzlichen Erfahrungen in der Kindheit – von der „Gottesvergiftung“, von „dem Gott, der alles sieht und alles bestraft“, von den Ängsten, in die sie durch dämonische Gottesbilder versetzt wurden, von Leistungsansprüchen, die religiös begründet wurden: „Gott liebt dich, wenn du alles richtig machst.“ Oder: „… wenn du im Leben erfolgreich bist.“ Religiöse Erziehung schränkt dann das Lebens und Aufwachsen ein.
Wichtig: Die bewusste Auseinandersetzung mit eigenen Kindheit
Dass solche Gottesbilder nicht dem christlichen Glauben entsprechen, ist inzwischen bekannt, und ebenso wird eine einengende religiöse Erziehung zu Recht abgelehnt. Insofern ist die Auseinandersetzung mit Fehlformen der religiösen Erziehung zu begrüßen. Manche Eltern hat sie allerdings offenkundig stark verunsichert: Aus dem Wunsch, dass die eigenen Kinder es einmal besser haben sollen, verzichten sie auf religiöse Erziehung überhaupt. Dabei übersehen sie nicht nur, dass Kinder ein Recht auf Religion, auf religiöse Begleitung und Unterstützung haben – weil sie sonst mit ihren großen Fragen allein bleiben und sich in dieser Hinsicht nicht wirklich entfalten können. Dazu kommt: Die negativen Erfahrungen, die die Eltern selbst einmal gemacht haben, lassen sich nicht einfach überspringen oder verleugnen; oft genug stellen Kinder nämlich auch dann religiöse Fragen, wenn die Eltern das gar nicht wollen.
Die bewusste Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte und der religiösen Erziehung in der eigenen Kindheit bleibt deshalb für Eltern wichtig. Schon ein Gespräch über solche Erfahrungen mit anderen Menschen kann befreiend wirken. Hier liegen auch Chancen für die Erwachsenenbildung. Bei solchen Gesprächen zeigt sich immer wieder, in wie vielen Lebensgeschichten der religiöse Faden abgerissen ist: Religion blieb mit der Kindheit zurück als eine ferne Erinnerung. Kinder fordern die Erwachsenen dazu heraus, den Faden wieder aufzunehmen. Sie spielen ihnen die Chance zu, noch einmal neu zu beginnen und zu wachsen. Denn religiöse Entwicklung gibt es nicht nur im Kindes- und Jugendalter!
„Habe ich etwas falsch gemacht?“
Die zweite wichtige Quelle der Unsicherheit heutiger Eltern bei der religiösen Erziehung sind die wachsenden Ansprüche, die heute fast durchweg an Erziehung und Bildung gestellt werden. Professionell sollen sie sein; die Qualität von Erziehungs- und Bildungsangeboten wird allenthalben evaluiert und steht auf dem Prüfstand. Doch was im Blick auf Kindertagesstätten oder Schulen vernünftig ist (sofern auch die Formen der Überprüfung es sind), ist im Blick auf Familie und Elternhaus nicht angemessen. Bei Eltern droht der Trend zur Professionalisierung eher Ratlosigkeit hervorzurufen: Können und sollen wir als pädagogische „Laien“ unsere Kinder überhaupt noch erziehen?
Stattdessen käme es darauf an, Eltern neuen Mut zu machen zur religiösen Erziehung. Manchmal erzählen Mütter oder Väter von den Fragen ihrer Kinder und von ihren tastenden Antwortversuchen – und fragen dann: Habe ich da etwas falsch gemacht? Nicht allein, dass die „Profis“ ihnen dann in den allermeisten Fällen nur bestätigen können, dass sie gleichsam intuitiv aus der Vertrautheit mit ihren eigenen Kindern heraus genau das Richtige getan oder gesagt haben; viel wichtiger als einzelne „korrekte“ Antworten, die Eltern vielleicht geben, ist allemal die Gesamthaltung, mit der Eltern Kindern auch bei der religiösen Erziehung begegnen: eine Haltung des Respekts und der Achtung vor dem Kind, eine Haltung unterstützender Einfühlung, des sorgsamen Hörens auf die Fragen von Kindern.
Die Freiheit der Kinder
Gerade das Hören wurde in seiner Bedeutung für religiöse Erziehung in der Vergangenheit wohl nicht genügend wahrgenommen. Aber Kinder haben Fragen, und sie wollen wissen, wie Erwachsene darüber denken. Es muss ja nicht gleich jetzt und sofort an der Kasse des Supermarkts sein. Allerdings bleibt die Frage: Wie lässt sich die verbreitete Unsicherheit von Eltern in Sachen religiöse Erziehung überwinden? Wie lässt sich ihre Kompetenz stärken? Was müssen sie können, um der Verantwortung für die religiöse Erziehung ihrer Kinder gerecht zu werden? Brauchen sie vielleicht gar einen „Elternführerschein“?
Die Frage kommt – bezeichnenderweise – nicht von Eltern. Sie kommt vielmehr von Erzieherinnen und Lehrerinnen, die sich Sorgen um das Wohl der Kinder machen. Und in der Tat: Bislang macht sich der Staat weit mehr Gedanken darüber, wie beispielsweise eine Führerscheinpflicht Unfälle im Straßenverkehr vermeiden kann, als über die genauso wichtige Vermeidung von Unfällen in der Familienerziehung. Doch die Einführung einer Pflicht, möglichst noch vor der Geburt eines Kindes den „Elternführerschein“ zu erwerben, ist keine Lösung; sie verstieße gegen den freiheitlichen Charakter unserer Gesellschaft. Der Staat hat kein Recht, die Erziehung in der Familie zu normieren. Also muss es bei freien und deshalb möglichst attraktiven Angeboten für Eltern bleiben – nicht nur, wie heute viel diskutiert, zur Sprachförderung, sondern auch zum Umgang mit Werten und mit Konflikten.
Ein Führerschein ist keine Lösung
Aber selbst wenn es diese Angebote in ausreichender Zahl und Qualität gäbe: Für den Ausgang, den „Erfolg“ der religiösen Erziehung sind Eltern nur begrenzt haftbar. Sie können ihre Ziele in dieser Hinsicht nicht ohne weiteres tatsächlich erreichen. Selbst wenn sie sich ausdrücklich wünschen, dass ihre Kinder auch später als Christen leben, können sie dafür nicht garantieren. Zu viele andere Einflüsse aus der Gesellschaft, von Gleichaltrigengruppe oder aus den Medien, spielen dabei eine wichtige Rolle. Religiöse Familienerziehung ist keineswegs allmächtig; sie ist vielmehr Teil des Erziehungsganzen und ihre Wirksamkeit wird durch andere Einflüsse begrenzt.
Dazu kommt, vielleicht noch wichtiger, eine prinzipielle Überlegung: Religion ist nach christlichem Verständnis eine Angelegenheit der Freiheit. Zum Glauben kann oder soll niemand gezwungen werden. Glaubens- und Gewissensfreiheit ist nicht nur eine Garantie im Grundgesetz. Sie entspricht vielmehr zutiefst dem Wesen des christlichen Glaubens als einer persönlichen Überzeugung, wie sie niemandem vorgeschrieben werden kann.
Wenn also die Möglichkeit bestehen soll, sich für diesen Glauben zu entscheiden, so muss es auch die Möglichkeit geben, sich dagegen zu entscheiden. Die Verantwortung der Eltern für die religiöse Erziehung kann deshalb immer nur so weit reichen, dass ihre Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen wirklich eine reflektierte Entscheidung treffen können. Wie diese Entscheidung dann ausfällt, muss in deren Freiheit gestellt bleiben.
Friedrich Schweitzer