Geplante Zeit – gestaltete Zeit
Familien stehen heute unter der besonderen Aufgabe, Zeit zu synchronisieren, verschiedene Zeiten und Zeitrhythmen anzugleichen, um so Zeit für das Miteinander, für „Sozial-Zeit“/Beziehungs-Zeit zu finden.
1. Erfahrungen und Beobachtungen
- Es gibt viele Versuche, der Verknappung der Zeit mit ausgeklügelten Methoden und Techniken zu begegnen. Eine geläufige Form besteht darin, möglichst genaue Pläne zu machen, die Zeit in möglichst kleine Einheiten aufzuteilen und die Tätigkeiten genau zeitlich zu fixieren, damit man nichts verpasst.
- Wie erfolgreich unser Bildungssystem in der Vermittlung von Wissen, Bewusstsein und Fertigkeiten ist, ist sehr schwer zu sagen. Eins scheint jedoch sicher: Das Zeitmanagement in Form des Stundenplans prägt die Schule dem Leben aller Menschen unserer Gesellschaft ein. Und dieser heimliche Lehrinhalt wird immer erfolgreicher. Wie ist es sonst zu erklären, dass die Stundenplantechnik immer weiter in die Freizeit und Erholung hinein wandert. Nach der staatlichen Schule kommt die Musikschule, kommen die Trainingszeiten beim Sportverein, die Ballettstunde. Die Freizeit steht unter Verschulungsdruck. Nur noch jene Freizeittätigkeiten scheinen – vor allem für die Kinder – sinnvoll zu sein, in denen auf schulische Weise etwas gelernt wird.
2. Über die Organisationsleistung der Familie
„Die Gemeinsamkeit in der Familie herzustellen, ist eine stetige Gestaltungsaufgabe aller ihrer Mitglieder. Analytisch lassen sich die Aufgaben der zeitlichen Synchronisation und der sozialen Integration unterscheiden. Synchronisation ist sowohl für die zeitliche Abstimmung von gemeinsamen Freizeitaktivitäten wie auch zwischen diversen Obligationszeiten der Familie, die an die Arbeits-, Öffnungs- und Nutzungszeiten wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und politischer Institutionen gebunden sind, erforderlich.“ (Garhammer/Gross, Synchronisation)
Die verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereiche haben mit ihrer wachsenden Verselbstständigung ihren je eigenen Zeittakt, eine je eigene Zeitsprache entwickelt. So haben die Familien, das Bildungswesen, die betrieblichen Produktionen, die Politik, die Kirche weithin ihre spezifische Zeitordnung, mit der sie ihre internen Abläufe strukturieren. Diese primär mit Blick auf die inneren Erfordernisse eines Teilbereichs entwickelten Zeitordnungen sind deswegen auch kaum untereinander abgestimmt. Das Zeitmanagement in den Haushalten muss auffangen und versöhnen, was die Betriebe und Institutionen an starren und nicht abgestimmten Zeiterfordernissen an die Familienmitglieder herantragen. Auch die heute vieldiskutierte „Flexibilisierung der Arbeitszeit“ trägt ambivalente Züge. Sie kann einerseits die Spielräume der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Zeitgestaltung erhöhen und es ihnen erleichtern, die Verpflichtungen aus den verschiedenen Lebensbereichen leichter und besser aufeinander abzustimmen und so insbesondere die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit ermöglichen. Flexibilisierung der Arbeitszeit kann jedoch auch (insbesondere wenn die Flexibilität nicht auf die Bedürfnisse des Arbeitnehmers, sondern nur auf die betrieblichen Anforderungen hin definiert wird) die Zeitorganisation erschweren, da sie auch noch die Planbarkeit, die in den starren Arbeitszeiten des „Normalarbeitsverhältnisses“ lag, untergräbt und die Abstimmung zwischen verschiedenen Lebensbereichen nahezu unmöglich macht.
Die zeitlichen Anforderungen der sozialen Umwelt unter einen Hut zu bringen, ist jedoch nur eine Aufgabe, vor der sich Familie gestellt sieht.
„Hinzukommt, dass der Tages- Wochen- und Lebenslauf in der Familie durch eine eigene familiale Zeit strukturiert wird. Am stärksten spüren das die Eltern nach der Geburt eines Kindes: Der Tages- und Nachtablauf in der Familie wird fast völlig durch den Rhythmus des Kleinkinds vorgegeben“. (Garhammer/Gross, Synchronisation)
Beziehung braucht Zeit, Liebe hat ihre Zeit, Kinder haben und brauchen ihre Zeit: Paare und Familien müssen (wieder) lernen, dass sie ihre Zeit, die sie für sich und für ihr Miteinander brauchen, nicht als „Zeit-Luxus“ verschämt von der Arbeitszeit, der Schulzeit, der Kirchenzeit abknapsen und mit schlechtem Gewissen auch an sich denken, sondern daß ihnen mit Recht diese Zeit zukommt, dass ihre Zeit ebenso wichtig ist wie die Arbeitszeit, Schulzeit, Gesellschaftszeit ...
In diesem Sinne ist die familiäre Zeitorganisation, die Zeitkultur von Beziehungen, die Entdeckung, dass alles seine Zeit hat und braucht, nicht nur eine Sache persönlicher und familiärer Lebensgestaltung, private Aufgabe und Not, sondern eine politische Angelegenheit. Es hat zu tun mit dem Thema „Familie und Arbeitswelt“, mit Themen wie „Flexibilisierung und Wochenendarbeit“, „Ladenschlusszeit und Verkehrsplanung“ usw.
Was nützt es, wenn das Band im Betrieb ohne Pause weiterlaufen kann, um Produktivität zu erhöhen und Kosten zu sparen, wenn dafür das „Band“ in der Ehe, das „Familienband“ stillsteht oder stillstehen muss?
Das II. Vatikanische Konzil hat in seiner Konstitution über die Kirche in der Welt von heute gesagt, die Nöte, Ängste und Hoffnungen der Menschen von heute seien auch die Ängste und Fragen der Christen. Wenn das so ist, dann berührt uns das Thema „Zeitkultur“ nicht nur privat und persönlich, sondern auch als Christen und Zeitgenossen. Alle Religionen so auch das Christentum, seine Theologie und Spiritualität haben eine reichhaltige Kultur der Entschleunigung entwickelt: Gebet, Meditation, Liturgie, geistliche Methoden zu unterscheiden, was jetzt wichtig und was unwichtig ist. In ihnen ist die Erfahrung tradiert, dass nicht Haben und Erleben alles ist – denn „Gott allein genügt“.
Wenn wir als Christen uns neu auf diese heilenden Kräfte unserer spirituellen Kultur besinnen und lernen, anders zu leben, können wir damit auch einen heilsamen Dienst tun und einen Lebensimpuls setzen für unsere Mit-Menschen und Zeitgenossen.
„Leben in Fülle braucht Zeit. Wer rastlos sein Leben mit Aktivitäten füllt, ist bald nur noch Sklave seiner zerinnenden Zeit. Wer aber seine Tage durch Besinnungspausen gliedert und den Ruhetag der Woche zur Sammlung benutzt, gewinnt Lebensfülle hinzu und wird frei zum Teilen der Zeit mit anderen Menschen“ (aus: 5 Thesen zu einem neuen Lebensstil, Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in der Schweiz).
Hans-Jakob Weinz