Werte erwachsen. Der Zusammenhang zwischen Erziehung und Religion
Werteorientierte Erziehung: Was ist nötig, was ist möglich?
Ich spreche aus der Perspektive der wissenschaftlichen Religionspädagogik. Ich selbst bin evangelischer Theologe und Pädagoge, aber ich spreche insofern zugleich aus der Perspektive einer ökumenischen Zusammenarbeit, als mein Beitrag aus der bereits jahrelangen engen Kooperation mit meinem Tübinger katholischen Kollegen Albert Biesinger erwächst und zudem auf der Grundlage einer von uns beiden gemeinsam erstellten Expertise für das BMFSFJ erwachsen ist. Das Thema „Werteorientierte Erziehung: Was ist nötig, was ist möglich?“ möchte ich in Form von drei Fragen aufnehmen:
1. Vor welchem Hintergrund stellt sich die Herausforderung werteorientierter Erziehung heute neu?
Wir leben in einer Zeit und Gesellschaft, in der die Frage nach tragfähigen Werten im pluralen Zusammenleben sehr verschiedener Menschen und Kulturen unausweichlich geworden ist. Diese These setze ich im Folgenden als bekannt und weithin akzeptiert voraus. Neu hingegen ist, dass - etwa mit dem 12. Kinder- und Jugendbericht (2005) gesprochen - die öffentliche Verantwortung für Erziehung und Bildung vor der Schule zunimmt und verstärkt wahrgenommen werden soll. Dem entsprechen insbesondere verschiedene Initiativen der Bundesregierung, die Verfügbarkeit von Betreuungsmöglichkeiten für Kinder zu verstärken, die vorhandenen Angebote auszubauen und neue Angebotsformen zu entwickeln. Damit stellt sich aber auch in neuer und zugespitzter Weise die Frage, wie die .Betreuung, Erziehung und Bildung. der Kinder aussehen sollen, d.h. gestellt sind Qualitätsfragen im weitesten Sinne: Wir brauchen nicht nur mehr Betreuung, sondern wir brauchen pädagogisch wirksame Angebote. Auch über die seit PISA diskutierten Möglichkeiten sprachlicher und naturwissenschaftlicher Frühförderung hinaus muss es deshalb um Werte und die damit verbundenen Lebensorientierungen gehen. Damit ist bereits ein zentraler Punkt angesprochen: Werte gibt es nicht an sich . Werte gibt es nur im Horizont von Lebensorientierungen, und solche Lebensorientierungen besitzen stets einen weltanschaulichen oder religiösen Charakter. Das muss allerdings genauer erläutert werden.
2. Welcher Zusammenhang besteht zwischen werteorientierter Erziehung und Religion?
Ich beginne bei gleichsam äußeren Voraussetzungen, d.h. bei der Art der Einrichtungen, die im Bereich der Elementarpädagogik tätig sind, also Kindergärten und Kindertagesstätten. Diese Einrichtungen befinden sich mehrheitlich in freier Trägerschaft, nicht nur, aber besonders in kirchlicher Trägerschaft. Diese Form der Trägerschaft ist natürlich historisch gewachsen, aber sie wird heute als höchst zukunftsfähig und zukunftsweisend angesehen: Sie folgt dem demokratischen Prinzip der Subsidiarität bzw. dem Prinzip einer bewussten Partnerschaft zwischen Staat und Zivilgesellschaft. Soweit Wahlmöglichkeiten zwischen unterschiedlichen Einrichtungen bestehen, kann auch von einer gezielten Elternentscheidung für eine religiöse Trägerschaft gesprochen werden. Mit einer solchen Entscheidung verbinden Eltern vielfach ausdrücklich die Erwartung, dass kirchliche Einrichtungen für eine klare Wertorientierung einstehen. Aus wissenschaftlicher Sicht ist darüber hinaus ein inhaltlicher Zusammenhang zwischen Werten und Religion festzuhalten, allerdings in differenzierter Weise: Einerseits sind Religion und Ethik nicht gleichzusetzen, andererseits gehört Religion aber zu den wichtigsten Quellen werteorientierten Lebens und Handelns. Das gilt auch für die Pädagogik: Werte und Normen kann es auch ohne Religion geben, aber der prinzipielle Verzicht auf eine religiöse Grundlegung von Werteerziehung wäre absurd. Im Bild ausgedrückt: Blumen können auch im Gewächshaus wachsen, aber daraus folgt nicht, dass ein Verzicht auf Freilandblumen sinnvoll wäre. Dabei ist auch das Lebensalter bzw. die kindliche Entwicklung zu bedenken: Je jünger das Kind, desto weniger kann es eine spezielle Werteerziehung geben, die nach dem Vorbild des Ethikunterrichts als besonderer Bereich neben anderen Erziehungsbereichen stünde. Stattdessen ist Werteerziehung einfach ein Teil der Lebensformen, in die Kinder einbezogen sind: Kinder lernen Werte nicht in isolierter Form, sondern im gemeinsamen Leben und Handeln. Daraus ergeben sich wichtige Konsequenzen für die Praxis. Zunächst ist aber noch festzuhalten, dass eine religiös begründete Werteerziehung auch für den weltanschaulich neutralen Staat kein unüberwindbares Hindernis be- deuten muss, zumindest nicht gemäß der deutschen Tradition (etwa im Unterschied zum französischen Laiszismus). Auszuschließen ist allerdings Zweierlei: Weder darf der Staat selbst als religiöser Erzieher auftreten (das wäre eine Rückkehr zur Staatsreligion), noch darf es zu einer wechselseitigen Funktionalisierung von Staat und Kirche kommen (das wäre die Wieder- kehr eines schlechten Staatskirchentums). Sinnvoll und möglich ist hingegen eine Kooperation im Sinne von Art. 7,3 GG, der zunächst nur den schulischen Religions- unterricht betrifft, aber zugleich als Modell für andere Bereiche der Zusammenarbeit angesehen werden kann: Zugunsten der positiven Religionsfreiheit können Staat und Kirche so zusammenwirken, dass ihre jeweiligen Kompetenzbereiche deutlich gewahrt bleiben und sich, gerade unter dieser Voraussetzung, wechselseitig stützen. Diese Kooperation hat sich beim schulischen Religionsunterricht bewährt - ohne - religiösen Zwang für Kinder oder Eltern und mit der prinzipiellen Offenheit auch für Kooperationspartner über die Kirchen hinaus.
3. Welche Handlungsperspektiven sind vordringlich?
Ich beschränke mich auf wiederum drei Gesichtspunkte: Erstens sollten die unterschiedlichen Aufgaben nicht, wie so häufig in der Vergangenheit, gegeneinander ausgespielt werden: Es kommt ebenso darauf an, die Erziehungsmöglichkeiten und -kompetenzen von Eltern zu stärken, wie darauf, familienergänzende Angebote auch für die werteorientierte Erziehung verfügbar zu machen, vor allem im Bereich der Kindertagesstätten, aber auch in Zusammenarbeit mit weiteren Partnern, vor Ort und in der Region sowie in den Medien. Zweitens muss deutlich sein, dass Werteerziehung nicht als ein gesondertes Lernprogramm funktionieren kann, sondern nur durch den Einbezug des Kindes in eine um- greifende Lebensform. Werteerziehung geschieht einfach dadurch, was und wie Familien leben oder welche Gesamtgestalt eine Kindertagesstätte ausbildet. Deshalb geht es nicht um neue Lernprogramme, sondern um ethisch gehaltvolle Lebensformen. Drittens ist aber auch festzuhalten, dass Kinder von früh auf fragende und suchende Menschen sind. Werte und Religion sind Teil ihrer Welterschließung. Kinder wollen nicht nur wissen, wo die Brötchen herkommen oder was mit dem Müll passiert. Sie wollen auch wissen, wer oder was Gott eigentlich sei und was mit den Toten geschieht. Kinder brauchen deshalb eine Umwelt, die ihnen genügend Anregungen und Anstöße auch in diesen Hinsichten geben kann und die sie auch bei ihren großen Fragen nicht allein lässt. Deshalb schließe ich mit der These: Was nötig und was möglich ist, muss sich an erster Stelle am Wohl des Kindes bemessen, aber wir müssen lernen, dass dazu nicht nur Gesundheit und intellektuelle Fitness gehören, sondern auch Werte, Lebensorientierung und Religion.
Prof. Dr. Friedrich Schweitzer