Wie ein Geländer zum Festhalten
Kinder brauchen Rituale, sagt die Psychologin Sigrid Rogge. Aber die Eltern können sie ihrem Nachwuchs nicht einfach vorschreiben.
Sigrid Rogge ist Psychologin und arbeitet in der Erziehungs- und Familienberatungsstelle des Caritasverbandes des Erzbistums Berlin, Potsdam.
Welche Bedeutung haben Rituale für Kinder?
Wenn ich von Ritualen mit Kindern spreche, dann geht es mir um wiederkehrende Handlungen, die eine symbolhafte Bedeutung über das konkrete Handeln hinaus haben. So können gemeinsame Mahlzeiten gemeinschaftsfördernde Bedeutung haben; das Kreuz auf die Stirn des Kindes kann ein Zeichen dafür sein, dass es unter dem Schutz Gottes steht, und das Pusten auf die Wunde des Kindes kann eine tröstende Funktion haben. Rituale sind Handlungen, die immer in einer bestimmten Art und Weise ablaufen. Sie geben das Gefühl von Ordnung und Sicherheit, sie bewirken ein Wohlgefühl, stärken das Beziehungsgefüge in der Familie.
In der Familie gestalten Rituale das Zusammenleben. Das Kind lernt sich einzufügen, übernimmt Werte und Normen, und fühlt sich dadurch zugehörig zur ganz eigenen Familie. Kinder können sich durch Rituale in den Blick genommen und wertgeschätzt fühlen, sei es durch eine regelmäßige Zeit zum Spielen am Abend, durch das besondere Bedachtwerden am Geburtstag oder Namenstag, durch das gemeinsame Essengehen nach der Zeugnisausgabe. Rituale können dem Kind Übergänge erleichtern wie die Abschlussfahrt im Kindergarten, die Einschulungsfeier bei dem mutigen Schritt in die Schule. Und sie können dem Kind helfen, mit Trauer und Enttäuschung umzugehen. So schafft ein Beerdigungsritual für das verstorbene Haustier dem Kind ein Ventil für seine Traurigkeit.
Warum braucht es dazu ausgerechnet Rituale? Eltern können doch auch anders liebevoll auf ihre Kinder eingehen.
Rituale schaffen Ordnung und Sicherheit. Ich nenne das als ersten Punkt, weil Kinder ja zunächst lernen müssen, Vertrauen zu entwickeln. Dazu muss ein Kind die Ordnung seiner Umwelt erkennen können. Je kleiner es ist, umso wichtiger sind stabile Umweltbedingungen. Bei all den Begegnungen in der Familie, bei der Körperpflege, beim Essen oder Spielen, erleben Kinder eine Struktur und Ordnung, die ihnen Sicherheit verleiht. Durch immer gleiche Abläufe, durch die Kontinuität des Alltäglichen, wird das Leben für das Kind berechenbar. Rituale sind wie ein Geländer zum Festhalten. Unvorhergesehenes erlebt das Kind genug.
Solche Alltagsrituale stellen für das Kind einen Erwartungsrahmen zur Verfügung, das heißt sie ermöglichen Vorfreude. Wenn nach dem Abendessen immer die Kuschel-Vorleserunde dran ist, dann freut sich das Kind darauf und fordert diese Runde auch lautstark ein. Und Rituale ermöglichen nicht nur eine Einbindung in den Alltag, sondern auch in den Jahreskreislauf. Das merken Sie deutlich, wenn Kinder sagen: Erst kommt das Christkind, und dann habe ich Geburtstag.
Das gilt besonders für die ersten Lebensjahre?
Wenn Kinder größer werden und ins Jugendalter kommen, verschiebt sich das Verhältnis vom Wunsch nach Festgefügtem in Richtung Freiheit und Autonomie. Und als Erwachsene wissen wir, dass diese beiden Grundbedürfnisse „Eingebunden sein“ und „Frei sein“ eine Lebensaufgabe darstellen. Aber für kleinere Kinder stehen Sicherheit und Geborgenheit im Vordergrund; sie brauchen das Grundgefühl der Geborgenheit, um sich die Welt anzueignen. Und sie fordern das auch ein. Das Zu-Bett-Bringen als wichtiges Übergangsritual vom turbulenten Alltagsgeschehen zur ruhigen, für Kinder oft unheimlichen Nacht findet ja zum Beispiel immer in der gleichen Reihenfolge statt: erst die Geschichte, dann das Lied, dann das Schmusetuch, der Teddy, das Kreuzzeichen. Diese Reihenfolge, die sich zwischen Vater oder Mutter und Kind entwickelt, ist ein Stück gemeinsame Beziehungsgeschichte. Das Kind gestaltet mit, indem es die Arme vielleicht immer an der gleichen Stelle ausstreckt, um den Vater oder die Mutter noch einmal zu umarmen. Die Eltern respektieren das Kind, indem sie sich auf dieses Umarmen einlassen. Das Kind weiß, dass es sich darauf verlassen kann, immer wieder. Die Eltern machen sich berechenbar, also verlässlich für das Kind. Genauso entwickeln Kinder oft ein sehr detailliertes Verabschiedungsritual, wenn sie zum Beispiel zur Tagesmutter oder in den Kindergarten gebracht werden: erst die Jacke an den Haken, dann die Hausschuhe anziehen, dann zur Erzieherin rennen und noch mal zurück zur Mutter und winken, und dann erst geht der Kindergartentag richtig los. Der Ablauf dieser Verabschiedung ist eine Gemeinschaftssache von Mutter und Kind. Auf diesen Ablauf lassen sich Mutter und Kind ein.
Rituale stellen also auch Ansprüche an die Eltern?
Ja, auf alle Fälle. Solche Alltagsrituale erfordern von den Eltern Disziplin. Es geht nicht um Lust und Laune, sondern darum, verlässlich zu sein. Schließlich ist das gefundene Ritual zwischen Mutter oder Vater und Kind nichts Beliebiges, sondern ein individuell entstandenes Ritual, das es nur zwischen diesen Personen gibt. Das ist schon eine Herausforderung für Eltern. Auf der anderen Seite gilt aber auch: Eltern haben etwas davon, wenn sie sich disziplinieren, denn der Verlässlichkeitsrahmen, den sie ihren Kindern schaffen, ist ja auch eine Hilfe für sie selbst. Gerade in Zeiten, in denen sie selbst mit Stress oder Sorgen belastet sind, geben sie in diesen Alltagsritualen ihrem Kind Sicherheit trotz allem. Und das Sicheinlassen auf diese intensiven Begegnungsmomente mit dem Kind trotz all der Alltagsverpflichtungen tut auch den Eltern in der Regel gut.
Aber auch Rituale haben ein Verfallsdatum?
Rituale in der Familie sind nichts Statisches, sondern etwas sehr Dynamisches. Es geht ja um Beziehungen. Und so wie sich die Menschen in der Familie entwickeln, passen natürlich Rituale aus Kindertagen nicht auf ewig. Der Wunsch nach Veränderung kann von den Kindern oder den Eltern ausgehen. Wenn der Vater seinen 12- und 15jährigen Kindern vorschlägt, dieses Jahr doch auf den Weihnachtsbaum zu verzichten, weil die Familie am 25. Dezember verreist, dann kann es sein, dass selbst die jugendlichen Kinder vehement protestieren. Weihnachten ohne Weihnachtsbaum? Das geht nicht! Oder: Die Tochter macht der Mutter, die das Mädchen immer mit einem Kuss verabschiedet hat, deutlich, dass sie das jetzt nicht mehr will. Genauso ist es mit dem Nachtgebet. War es für die Kinder jahrelang ganz wichtig, mit genau diesem Gebet in die Nacht verabschiedet zu werden, so wird der Zeitpunkt kommen, dass Kinder ihre Eltern mehr oder weniger dezent darauf hinweisen, dass sie das jetzt nicht mehr möchten.
Und was dann?
Dann ist ein neuer Entwicklungsschritt angesagt, auch für die Eltern. Es geht in solch einer Situation nicht darum, an einem Ritual zwanghaft festzuhalten, auch nicht darum, das Ritual sofort zu verwerfen – einmal aufgegebene Rituale sind schwer neu zu initiieren. Sondern eher darum, sich mitzuteilen, was denn jetzt zumindest für den einen nicht mehr stimmig ist und welche Bedeutung das Ritual für die anderen Beteiligten hat. Das eröffnet die Chance, das Ritual neu mit Leben zu füllen oder eine neue, stimmigere Form zu finden. Kinder sind sehr sensibel für die Stimmigkeit von Ritualen und auch dafür, ob es Eltern ehrlich meinen.
Können Sie als Beraterin Familien Rituale „verordnen“?
In der Beratungsstelle erlebe ich, dass Eltern mir sagen: Ich habe das Gefühl, den Kontakt zu den Kindern zu verlieren. Dann ermutige ich sie, in ganz konkreten Situationen den Kontakt zu suchen und sich darauf einzulassen. Für viele Familien sind regelmäßige Begegnungspunkte hilfreich wie der sonntägliche Spielenachmittag, die viertelstündige gemeinsame Zeit vor den Abendbrotsvorbereitungen oder der wöchentliche Familienrat. Wenn sich diese Formen bewähren, können Familienrituale daraus entstehen.
Familien berichten immer wieder von der Schwierigkeit, Übergänge stressfrei zu gestalten, zum Beispiel das Abholen aus dem Kindergarten oder die „Übergabe“ zwischen getrennt lebenden Eltern. Mein Anliegen ist es dann, die Eltern zu ermutigen, mit dem Kind zusammen Formen des Miteinanders zu finden, die diese Übergänge erleichtern.
Sie schreiben Familien also keine Rituale vor, sondern ermutigen sie, welche zu suchen. Mit Erfolg?
Allein das gemeinsame Suchen nach Lösung der Situation hat entspannende Wirkung, und die Erfahrung lehrt, dass selbst Vierjährige schon gute Ideen beisteuern können. So haben eine Mutter und ihr sechsjähriger Sohn zusammengetragen, was jedem beim Abholen vom Hort wichtig ist: dem Sohn Zeit zum Verabschieden, der Mutter ein erstes Begrüßen und sein selbstständiges Sachenholen, was der Mutter Zeit zum Durchatmen schenkt nach ihrem angefüllten Arbeitstag. Besiegelt wurde die daraus entstandene Vereinbarung mit einem Handschlag – eine Aufwertung für das Kind.
Beide fühlen sich in dieser Vereinbarung ernst genommen. Die Probezeit wird darüber entscheiden, ob diese Vereinbarung zum Ritual wird.
Verabredungen solcher Art sind nicht übertragbar. Jede Familie ist herausgefordert, eine ganz eigene stimmige Form des Miteinanders zu finden. Dabei kann der Austausch der Eltern über Familienrituale sehr bereichernd und anregend sein.
Steckt in Ritualen nicht auch die Gefahr, etwas zuzukleistern? Also „Wir tun mal so als ob“?
„Jetzt gebt euch mal die Hand!“ ist so eine Aufforderung von Eltern oder Pädagogen, die wollen, dass sich die Kinder wieder vertragen. Richtig daran ist: Erwachsene bieten Kindern einen konkreten Vorschlag an, wie man sich wieder vertragen kann. Falsch daran ist: Die Erwachsenen legen den Zeitpunkt fest, wann die Kinder soweit sein sollen, sich wieder zu vertragen. Wann sie sich auf den anderen wieder zu bewegen wollen, können die Kinder nur selbst entscheiden, denn sie haben ja den Konflikt miteinander. Ich plädiere sehr dafür, Kindern zu zeigen, wie man sich wieder vertragen kann; ich darf dabei aber nicht die Gefühle der Kinder übergehen, indem ich vorschreibe, ab wann es wieder gut ist. Wenn der Bruder im Tagebuch der Schwester liest, dann geht diese Verletzung nicht mit einem Handschlag weg. Dann sind beide gefordert zu überlegen, welches Versöhnungsritual zu welchem Zeitpunkt das passende ist.
Und wenn die Kinder nicht mehr wollen?
Rituale müssen immer wieder neu überdacht werden, neu mit Leben gefüllt werden, an die Lebenssituation angeglichen werden. Wenn einer sagt: „Da mach’ ich nicht mehr mit!“, dann ist das ein guter Anlass, über das, was nicht mehr gewollt wird, ins Gespräch zu kommen. Bei einer Familie, die gemeinsam mit den Kindern entschieden hat, dass sie wöchentlich einen Familienrat abhalten will – also zu einem festen Zeitpunkt sich zusammenzusetzen, alles Anliegende zu besprechen, Konflikte zu klären, aber auch zu sagen, was jedem gut am anderen getan hat – wollten die Kinder den Familienrat abschaffen. Das war für die Eltern eine heikle Situation, denn ihnen war diese Zusammenkunft etwas sehr Wichtiges und Wertvolles. Die Sache endete nach heftigen Diskussionen so, dass vereinbart wurde: Die wöchentliche Zusammenkunft gibt es weiter, allerdings in reduzierter Form mit dem Besprechen des Wochenplanes und der Klärung offener Fragen aus dem Familienalltag. Das Ritual hat sich der Lebenssituation mit heranwachsenden Kindern angeglichen. Und: Es bekam wieder einen Sinn, war stimmig. Dahinter steckt ja auch die Aufforderung an die Eltern: Kippt nicht sofort um! Sondern kämpft mit uns, dann merken wir, dass ihr uns ernst nehmt.
Gibt es typische Lebenssituationen von Eltern und Kindern, in denen Sie Rituale vermissen?
Wir kennen viele Rituale rund um die Hochzeit, aber wenige Rituale, wenn ein Paar auseinander geht. Rituale können den Eltern wie den Kindern bei der Bewältigung dieser leidvollen Erfahrung behilflich sein. Ich wünsche mir, dass die Kirche mutiger und aufmerksamer wird im Umgang mit sich trennenden Paaren und ihren betroffenen Kindern. Wenn sie es wünschen, könnte zum Beispiel die Segnung der betroffenen Familienmitglieder durch den Pfarrer eine sehr entlastende Funktion haben. Dabei ist auch der Rahmen für diese Segnung von Bedeutung: Die Segnung in der Kirche könnte die versöhnliche Gegenwart Gottes spürbarer machen, die Anwesenheit vertrauter Menschen die unterstützende Einbindung in die Gemeinschaft der Kirche auch in dieser Situation unterstreichen. Durch diesen Segen wird deutlich: Gott ist bei jedem von euch, und jedem von euch ist eine gute Zukunft verheißen. Gott hält jedem von euch die Treue auch in einer Zeit, in der sich viele andere verunsichert und verständnislos, zum Teil auch verurteilend zurückziehen. Mit Blick auf die Kinder heißt das ganz konkret: Sie können sehen, hören und spüren, dass sie selbst und ihre beiden (!) Eltern „gut-gesprochen“ werden.
Interview: Ute Eberl