Bildung, quasi nebenbei
Von der Fahrt zum Kindergarten über die Gespräche am Esstisch bis zum Abhören der Englisch-Vokabeln: Der Bildungsort Nr. 1 ist die Familie, meint Jessica Lammerse. Deshalb verdient sie Anerkennung und Unterstützung.
Morgens 7.30 Uhr auf dem Parkplatz vor der Kita neben meinem Büro. Während ich meine Arbeitstasche und den Laptop aus dem Kofferraum hole, steht gleich nebenan eine Mutter neben der geöffneten Tür ihres Autos und wartet auf ihren (vielleicht) Dreijährigen, der sich mühsam aus seinem Kindersitz schält. „Soll ich dir helfen?“, fragt sie. Die Antwort kommt prompt und entrüstet: „Nein, kann ich selber!“ Als der kleine Kletterer es endlich geschafft und auch die Kindergartentasche vom Rücksitz gezerrt hat, wirft die Mutter seufzend die Tür zu und will los Richtung Kita. Doch ihr Sohn überhört die freundliche Einladung mitzukommen und widmet sich stattdessen hochkonzentriert dem Verschluss seiner Tasche. „Leo, lass das jetzt bitte. Komm, ich muss gleich zur Arbeit. Abmarsch jetzt.“ Tatsächlich bekommt die Mama den Kleinen mit einem zärtlichen Stups auf den Rücken dazu loszugehen, aber sein Ziel hat Leo darüber nicht vergessen. „Mama, kannst du mir die Tasche aufmachen?“ „Was willst du denn aus der Tasche?“ „Ich will gucken, was ich mithab’.“ „Nein Leo, jetzt nicht, ich muss mich wirklich beeilen. Dafür ist gleich im Kindergarten Zeit.“ Leo quengelt und trotzt – bewundernswert, wie es seiner Mutter gelingt, ruhig, freundlich und verständnisvoll, dabei aber auch klar und deutlich zu bleiben in dem, was sie will – nämlich ohne weitere Unterbrechung zum Kindergarten kommen. Die Hecke vor dem Eingang entzieht die beiden meinem Blick.
…so ganz nebenbei.
Ja klar, die Kita ist ein Bildungsort. Aber wie viel Bildung hat Leo an diesem Morgen schon ganz nebenbei mitbekommen, ohne dass es irgendjemandem, wahrscheinlich nicht einmal seiner Mutter auffällt. Leo durfte sich motorisch ausprobieren, er durfte erleben, dass seine Meinung und seine Wünsche zählen, dass die Selbstbestimmung aber auch Grenzen hat: Auch Mamas Wünsche und Bedürfnisse zählen! Er durfte seinen Ärger darüber ausdrücken, dass sein Plan, selbstständig die Tasche zu öffnen, nicht aufging und dann auch noch aufgeschoben werden musste, weil die Mama ihm nicht helfen wollte. Selbstwirksamkeit, Frustrationstoleranz, Abwarten, Geduldigsein – wenn das nicht frühkindliche Bildung ist!
Der Bildungsort Nr. 1 ist die Familie.
Hier lernen Kinder jeden Tag und von Geburt an, was sie für ein glückliches und gelingendes Leben brauchen. Das Besondere daran (im Vergleich zur „institutionellen“ Bildung) mag sein: Es gibt keinen Lehrplan, nach dem alle Kinder in allen Familien dasselbe lernen, sie müssen keine Lernziele erreichen und keine Lernstandserhebungen aushalten. Aber das ist kein Nachteil: Gerade deswegen eröffnen Familien nämlich die große und einmalige Chance, jeden Menschen, jedes Kind so zu sehen und anzunehmen, wie er, sie oder es ist. Umso selbstbestimmter und individueller als in der Schule oder auch in anderen Bildungseinrichtungen können Kinder in Familien lernen. Die meisten Eltern haben ein gutes Auge für die Stärken und Schwächen ihrer Kinder, für das, was Leo oder Leonie interessant finden und was sie herausfordert. Im besten Fall erkennen Mütter und Väter sehr schnell, ob ihre Kinder mit dieser oder jener Aufgabe unter- oder überfordert sind, und können Frust und Ärger mit ihnen zusammen aushalten, benennen und Lösungswege suchen – jedenfalls solange sie sich den Blick auf ihr ganz besonderes Kind nicht durch Besserwissereien oder Druck „von außen“ verstellen lassen.
In der Familie geschieht Bildung über Beziehungen.
Die Kinder achten und lieben ihre Eltern, möchten sein „wie Mama und Papa“ und entwickeln deshalb schon sehr früh Interesse an allem, was die Großen interessiert. Da ist es leicht, Kinder für Sport, frische Luft oder gesundes Essen und frische Zutaten beim Kochen zu begeistern – ich muss sie nur (mit)machen lassen. Natürlich geht das Kuchenbacken mit einer Zweijährigen zusammen nicht so schnell von der Hand wie alleine, und vielleicht ist die Wäsche hinterher nicht so ordentlich zusammengelegt, wenn der Siebenjährige dabei hilft. Aber Leo und Leonie lernen dabei Wichtiges „fürs Leben“. Mütter und Väter, die ihre Kinder mitmachen lassen, leisten der Gesellschaft einen großen Dienst: Sie erziehen Menschen, die selbst für sich (und andere) sorgen können und die wissen, warum manche Dinge getan werden müssen, auch wenn das keinen Spaß macht.
Ein Schlüsselereignis dabei sind die Familienmahlzeiten.
Eltern, die regelmäßig mit ihren Kindern zusammen essen, schaffen damit feste, verlässliche Zeiten im Tagesablauf, ein Gerüst, das Kindern Sicherheit gibt. Sie erleben Gemeinschaft – miteinander reden, zusammen lachen, aber auch vom anderen genervt sein und trotzdem miteinander essen. Sie schauen sich ab, wie Messer und Gabel „richtig“ benutzt werden, sie hören wieder und wieder, welches Essverhalten Mama und Papa stört, und können irgendwann so manierlich essen, dass sich andere nicht ekeln. Vor allem in den ersten Jahren wäre es für viele Eltern bestimmt einfacher und angenehmer, in Ruhe allein zu essen; jeder nimmt seinen Teller dahin mit, wohin er gerade möchte, und isst wann und was ihm passt. Auch Teenager würden wahrscheinlich jubeln, wenn sie Pizza am Computer essen dürften statt zusammen mit den nervenden Eltern und nörgelnden Geschwistern … Gut, wenn Eltern sich solche verführerischen Auswege verkneifen und trotzdem am gemeinsamen Essen festhalten …
... denn es geht dabei um weit mehr als das Erlernen von Tischsitten. In Gesprächen am Esstisch erfahren Kinder alles Mögliche über Gott und die Welt, darüber, was ihren Eltern und den Geschwistern wichtig ist, wie unterschiedlich Menschen an Aufgaben heran- und mit Ereignissen umgehen. Sie sitzen mit Menschen am Tisch, die sich bedingungslos lieben, die einander kritisieren können, ohne Angst davor, nicht mehr gemocht oder respektiert zu werden. Und trotz ihres „Schon- wieder Blumenkohl!“-Genörgels wird morgen wieder etwas Warmes auf dem Tisch stehen. Solche Bildungserlebnisse bietet kein Kita-Mittagstisch und keine Schulmensa.
Manchmal ganz bewusst gewählt.
Klar, manchmal ereignet sich Bildung in Familien auch ganz explizit. Eltern melden ihre Kinder zur Musikschule oder im Sportverein an, bezahlen ihren Klavierunterricht und später Sprachreisen nach England oder Italien, unterstützen ihre Hobbys finanziell und logistisch, sprich: durch Chauffeurdienste. Sie machen mit ihnen „lehrreiche“ Ausflüge in den Zoo und in alle möglichen Museen, schenken ihnen Bücher und DVDs über den Bauernhof, die Zeit der Ritter und die Raumfahrt. Sie teilen ihren Frust, wenn die Schule nur noch als Last und Qual empfunden wird oder der Lieblingssport plötzlich keinen Spaß mehr macht, und machen Mut durchzuhalten. Sie helfen Streit zu schlichten und sich in andere Menschen hineinzuversetzen, sie bieten Worte an, wo das eigene Vokabular noch Leerstellen hat, sie helfen beim Fahrradfahren-Lernen und hören Latein-Vokabeln ab, sie quälen sich durch Englisch und Französisch, obwohl sie selbst kein Wort französisch können. Sie halten Streitereien um Fernsehkonsum und Computerzeiten aus, weil sie ihren Kindern einen gesunden und verantwortungsvollen Umgang mit Medien beibringen wollen. Sie überlegen, welches Spiel in welchem Alter wohl angemessen ist und diskutieren nächtelang miteinander, in welchem Alter ein eigenes Handy sinnvoll wäre. Und sie machen ihren Kindern klar, wie Zeitmanagement funktioniert und dass man sich oft zwischen mehreren schönen Dingen entscheiden muss.
Viel öfter allerdings passiert Bildung „einfach so“.
Einfach, weil Kinder bei ihren Eltern tagtäglich Handlungsmöglichkeiten und Prioritäten miterleben und abschauen (und später als Teenager vielleicht auch hinterfragen). Erziehung sei Beispiel und Liebe – die millionenfach zitierte Weisheit des Kindergarten-Erfinders Friedrich Fröbel gilt möglicherweise am nachdrücklichsten da, wo die Vorbilder selbst am wenigsten daran denken.
All das leisten Familien quasi nebenbei. Eltern erziehen ihre Kinder nicht nur, sie bilden sie. Zugegeben: Die einen mehr, andere weniger. Geschuldet ist das oft – neben den persönlichen Voraussetzungen, die Eltern mitbringen – auch den Bedingungen, unter denen Familien leben. Die Frage ist also: Was brauchen Eltern, damit das Bildungshaus Familie möglichst reiche Früchte trägt?
Zunächst einmal: Zeit. Befragungen von Eltern bestätigen regelmäßig: Am meisten fehlt es ihnen an Zeit. Deshalb wird Kindern schnell mal etwas abgenommen, weil Mama oder Papa nicht warten können, bis die Kleinen es selbst gemacht haben – und wieder ist eine Möglichkeit für das Kind verloren, die entsprechenden Fertigkeiten einzuüben und sein Selbstbewusstsein zu stärken. (Was das Kind, ganz nebenbei, oft und völlig zu Recht mit Wutgebrüll quittiert, was seine Umgebung ihm auch noch als „Trotz“ ankreidet …) Lieber kaufen Eltern schnell allein im Supermarkt ein, als mit ihren Kindern auf dem Markt über Äpfel, Birnen oder Orangen zu diskutieren, Preise und Qualitäten zu vergleichen, die Unterschiede zwischen gesunden und ungesunden Nahrungsmitteln zu erklären. Kurz gesagt: Kinder in der Familie etwas lernen zu lassen, geschieht zwar oft nebenbei und automatisch, erfordert meist aber auch Mühe und Geduld – und vor allem Zeit. Deshalb täte die Gesellschaft, täten gerade auch die politischen Entscheidungsträger gut daran, die Familien als Bildungshäuser ernst zu nehmen und nicht nur Kitas und Ganztagsschulen optimal auszustatten (was dringend erforderlich ist!), sondern eben auch Familien zu ermöglichen, Zeit miteinander zu verbringen und dabei eben auch ihren wichtigen und unersetzlichen Beitrag für die Bildung der Kinder zu leisten.
Neben Zeit und finanzieller Sicherheit, die das Bildungshaus Familie genauso selbstverständlich braucht wie Kitas, Schulen und andere Bildungseinrichtungen, gehört in das Lastenheft der Gesellschaft für ihre Eltern noch ein dritter Auftrag: professionelle Unterstützung, sprich: ein flächendeckendes Angebot an Elternbildung und -beratung, das sich besonders an den Bedürfnissen „bildungsferner“ Mütter und Väter orientiert. Die gerade von Bildungspolitikern viel beschworene „Erziehungspartnerschaft“ von Familie und institutioneller Bildung kann nämlich nur funktionieren, wenn die Familien – und zwar alle Familien! – als Bildungsort anerkannt und für die Erfüllung ihrer expliziten wie impliziten Bildungsaufgaben gestärkt werden. Dagegen könnte der Versuch, immer mehr Aufgaben aus den Familien heraus und in professionelle Bildungseinrichtungen hinein zu verlagern, das genaue Gegenteil bewirken – weil das nämlich riskiert, dass die Bereiche „Familie“ und „Bildung“ immer weiter auseinanderdriften.
Anerkennung als erster Schritt
Der erste notwendige Schritt wäre auf jeden Fall die ausdrückliche gesellschaftliche Anerkennung der familiären Erziehungs- und Bildungsleistungen – bis hin zu einem aufmunternden Nicken und Lächeln für die Mutter des Einjährigen, der mit seinem Bobbycar die Einkaufswagen im Supermarkt blockiert. Sie könnte zugleich verhindern, dass Angebote zur Eltern- und Familienbildung von den Empfängern* nicht als zusätzlicher Druck empfunden werden, sondern im Gegenteil ihr Selbstbewusstsein stärken: Wir Eltern sind die originären Lehrmeister unserer Kinder, die ihnen das Wichtigste fürs Leben mitgeben und beibringen.