Gut leben mit dem Kinderstress
Familienleben ist ohne Konflikte nicht zu haben. Wie gut Eltern und Kinder damit leben, hängt von ihrem Erziehungs- und Beziehungsstil ab.
Einerseits - Andererseits
Sarah kommt morgens noch mal zur Mama ins Bett gekrochen, um zu kuscheln. Denis sitzt mit seinem Papa seit einer Stunde an einer neuen Konstruktion mit dem Fischertechnik-Baukasten. Sabine bringt Mama ihr erstes Bild aus dem Kindergarten mit. Die ganze Großfamilie sitzt am Tisch und spielt „Uno“. Die Eltern kommen spät abends nach Hause und sehen noch mal nach den Kindern, die wie kleine Engel in ihren Betten schlafen.
Und so weiter. Es gibt hunderte Situationen, in denen es einfach schön ist, mit Kindern zu leben.
Teilzuhaben an ihrer Offenheit und ihrem Lebensdrang. Ihre Entwicklung mitzuerleben. Das Leben aus ihrer Perspektive wieder neu und aufregend zu finden.
Einerseits. Andererseits gibt es ebenso viele Situationen, die nerven, überfordern und Eltern davon träumen lassen, wenigstens für eine gewisse Zeit keine Kinder um sich zu haben: Ewige Streitereien. Die Zerrissenheit zwischen widersprüchlichen Wünschen. Motzige Antworten. Fruchtlose Diskussionen. Das Gefühl: Es reicht hinten und vorne nicht an Zeit, Kraft und Geld.
Eltern sein ist nicht immer ein Traumjob.
Das nüchtern einzukalkulieren, schützt vor unrealistischen Erwartungen. Aber wie gelingt es Müttern und Vätern, dass unterm Strich die Freude am Leben mit Kindern überwiegt?
Sicher spielen äußere Faktoren eine wichtige Rolle. Es führt zu Spannungen, wenn eine Familie beengt leben muss oder das Geld immer knapp ist. Anders dagegen, wenn das Umfeld stimmt: Dann prägt das auch die Familienatmosphäre: Dann haben Eltern und Kinder genügend Frei-und Rückzugsraum, andere Kinder zum Spielen in der Nähe, nette Nachbarn, engagierte Erzieherinnen oder verständnisvolle Lehrer, eine Oma oder einen Opa, der mal einspringen kann…
Aber finanzielle Sicherheit und eine familienfreundliche Infrastruktur sind nicht alles. Wie gut das Leben mit Kindern gelingt, hängt auch von den Beziehungen in der Familie ab, davon, wie gut sie die sozialen Grundbedürfnisse ihrer Mitglieder erfüllt, die der Individualpsychologe Alfred Adler so beschrieben hat: die Sehnsucht, dazuzugehören, wichtig zu sein, Einfluss nehmen zu können und sich geborgen zu fühlen. Kinder entfalten sich und werden gemeinschaftsfähig, wenn diese Bedürfnisse ernst genommen werden. Dazu gehört auch, dass sie ihrerseits lernen, Eltern und Geschwister zu respektieren und sich in ihre Familie einzufügen.
Entscheidend ist dabei die innere Haltung der Eltern.
Trauen sie ihren Kindern etwas zu? Ermutigen sie ihre großen und kleinen Schritte in die Selbstständigkeit? Respektieren sie ihre Kinder als eigenständige Persönlichkeiten, die ihre eigenen Beiträge ins Familienleben einbringen wollen? Oder wissen sie alles immer besser und nehmen den Kindern damit jede Herausforderung zu wachsen?
Keine Frage: Die meisten Eltern wollen ihre Kinder zu eigenständigen, verantwortungsbewussten, lebenstüchtigen und lebensfrohen Menschen erziehen. Doch im Gestrüpp des Erziehungs-Alltags gerät der Weg zu diesem Ziel manchmal aus dem Blick – wenn Kinder anstrengend sind, trotzen, sich verweigern, Machtspielchen demonstrieren. Oder wenn sie ständig um Aufmerksamkeit heischen. Wenn Eltern dann gereizt (über-)reagieren, kann sich schnell eine Spirale von Enttäuschung und Ärger übereinander entwickeln. Und am Ende fühlen sich alle, Eltern wie Kinder, nur noch „leer“ und entmutigt.
Worauf es ankommt
Worauf es deshalb ankäme, wäre: das „störende“ Verhalten der Kinder besser zu verstehen, vor allem die sozialen Grundbedürfnisse dahinter zu sehen. Was wollen Kinder wirklich, wenn sie die Telefongespräche ihrer Eltern stören? Geht es ihnen tatsächlich um das Spielzeugauto, das sie seit drei Wochen vermissen und jetzt ganz dringend brauchen? Oder fühlen sie sich vielleicht zurückgesetzt und ausgeschlossen, weil Mama so in das Telefonat mit ihrer Freundin vertieft ist? Brauchen sie also vielleicht ein Signal, das ihnen versichert: Ja, Mama hat mich nicht vergessen, ich bin ihr lieb und wert? Und nicht zuletzt müssten Eltern wissen: Wie kann ich meinem Kind Momente der ungeteilten Aufmerksamkeit schenken, in denen sie liebevolle Wertschätzung erfahren? „Edelsteinmomente“ nennen das die Autoren des Elternkurses „Kess erziehen“, für die es besondere Zeiten geben muss.
Konflikte zwischen Eltern und Kindern und unter den Kindern sind unausweichlich (und deshalb keine Katastrophe). Die Frage ist nur: Wie gehen wir damit um? So, dass wir dabei das Selbstwertgefühl der Kinder stützen, ihnen vielleicht sogar ermöglichen, aus den Folgen ihres Verhaltens zu lernen?
Ein demokratisch-respektvoller Erziehungsstil
Für die Pädagogen steht inzwischen fest: Am besten bekommt Kindern ein demokratisch-respektvoller Erziehungsstil, der
• ihre Persönlichkeit und ihre Bedürfnisse respektiert,
• sie ermutigt, ihre Stärken und besonderen Qualitäten zu entwickeln, und
so ihr Selbstwertgefühl stärkt,
• Grenzen setzt, um die berechtigten Bedürfnisse von anderen zu wahren,
• ihnen die natürlichen Folgen ihres eigenen Handelns zumutet und sie so
daran gewöhnt, Verantwortung zu übernehmen,
• sie in einem „Familienrat“ über Regeln und andere Entscheidungen für die
Familie mitbestimmen lässt.
Zu einem solchen Erziehungsstil gehört es auch, dass Eltern gut mit sich selbst umgehen und so immer wieder die Möglichkeit zum „Auftanken“ finden – ob das nun ein Tässchen Tee am Mittag, ein Tratsch mit der Freundin oder eine Runde auf dem Fahrrad ist. Bei allem Engagement als Mutter und Vater gilt nämlich: Dies ist zwar eine wichtige, aber nicht die einzige Rolle in ihrem Leben. Daneben noch andere Themen und Lebensinhalte zu kennen, erleichtert es Eltern, den Herausforderungen beim Erziehen mit mehr Gelassenheit zu begegnen. Ganz besonders tut es Kindern gut zu spüren, dass die Eltern auch ihre Paarbeziehung pflegen; sie bildet ja die Basis für ihre Geborgenheit und Sicherheit. Auch wenn es oft schwer fällt, Zeit dafür freizuschaufeln – es ist eine „Investition“, die sich auszahlt.
Mechthild Alber