Mütter, wie sie im Buche stehen
Eine Flut von Ratgebern verspricht Müttern Hilfe in allen Lebens- und Erziehungslagen. Doch die Vorstellungen von Mutterschaft können den Leserinnen zur zusätzlichen Last werden.
Der Markt blüht
Wer Fragen zu Schwangerschaft und Erziehung hat, kann heute auf ein fast unüberschaubares Angebot von Ratgebern zurückgreifen. Sie vermitteln Frauen, Müttern, Männern, Vätern nicht nur zahlreiche praktische Tipps, sondern unterschwellig auch eine Vorstellung davon, wie eine gute Mutter zu sein und was sie zu tun hat. Oft in normativer Form: durch die direkte Ansprache der LeserInnen, durch Tonfall und Wortwahl. Die meisten Ratgeber suggerieren, den richtigen Weg zu einer erfolgreichen und erfüllenden Mutterschaft und zur guten, kindgerechten Erziehung zu kennen. Nur wer sich an diese Vorschläge hält, hat glückliche Kinder und kann von sich behaupten: Ich bin eine gute Mutter.
Mütter greifen zu Ratgebern, weil sie beim Erziehen ihrer Kinder möglichst viel richtig machen möchten oder auch, weil sie sich verunsichert fühlen. Die meisten sind empfänglich für Visionen und Ideale, und so prägen die Ratgeber-Bilder der idealen Mutter mit, wie Mütter leben, was sie tun, was sie denken, welche Erwartungen sie an sich, an die Väter, ihre Familie oder an Freunde haben, wie sie sich selbst wahrnehmen und welche Sorgen sie haben.
Hannah Lothrops Mütter sind mit sich im Reinen
Seit 1982 lag und liegt das „Stillbuch“ von Hannah Lothrop bei zahllosen stillwilligen Frauen selbstverständlich auf dem Nachttisch; 2001 erschien die 24. Auflage. Mit zahlreichen Tipps für ein erfolgreiches und befriedigendes Stillen tangiert das „Stillbuch“ das Verhalten, die Lebensweise, die Selbstwahrnehmung von Frauen und deren Einstellung zu Körperlichkeit, Weiblichkeit und Sexualität.
Dass die gute Mutter bei Hanna Lothrop die erfolgreich stillende ist, versteht sich von selbst. Zugleich zeichnet sie sich durch eine Vielzahl spezifischer Eigenschaften, Verhaltensweisen und Lebensorientierungen aus: Die ideale Mutter „Lothropschen Stils“ ist aktiv natürlich und in hohem Maße körperorientiert. Sie betrachtet die Vorgänge um Schwangerschaft und Stillen als selbstverständlich. Ihre Körperlichkeit erlebt sie bewusst und positiv; Schwangerschaft und Stillzeit genießt sie lustvoll, ja Weiblichkeit vollendet sich eigentlich erst in Schwangerschaft und Stillen. Die ideale Mutter ist frei von Scham. Sie kennt ihren Körper, sie ist ihm vertraut, sie kann ihn „lesen“ und mit ihm umgehen. Sie beherrscht die hohe Kunst der Entspannung und „tut sich gut“. Hannah Lotrops Mutterideal ist eine in ihrer Körperlichkeit und Weiblichkeit selbstbewusste, genießerische und lustbetonte Frau.
Selbstbewusst ist sie auch in der Befriedigung ihrer sonstigen Bedürfnisse. Sie sorgt für sich, setzt Grenzen, vertritt ihre Interessen nach außen. Sie handelt weitgehend autonom von familiären und gesellschaftlichen Anforderungen, wenn sie mit ihren Bedürfnissen nicht übereinstimmen. Lange hat sie sich von ihrer eigenen Erziehung, familiären Erwartungen und gesellschaftlichen Zwängen emanzipiert. Hannah Lothrops Mütter sind idealer mit sich im Reinen, haben ihre bisherigen Erfahrungen in ihr Weltbild eingebaut, Negatives bewältigt. Sie sind sich ihrer selbst und ihrer Wünsche, aber auch ihrer Schwächen und Unsicherheiten bewusst und akzeptieren sie. Sie sind klar und selbst reflektiert; perfekt wollen sie nicht sein.
Die Beziehung der Mutter zu ihrem Kind ist von körperlicher und emotionaler Nähe geprägt. Über das Stillen erlebt sie sich und das Kind als natürliche Einheit, in der die körperlichen Grenzen verschwimmen. Ungetrübtes Glück, Wärme, Zärtlichkeit und Verbundenheit tragen die ideale Mutter-Kind-Beziehung. Im Umgang mit dem Kind bewegt sich die Lothrop-Mutter sicher, unerschütterlich, ruhig, gelassen und zuversichtlich.
Dabei respektiert sie die Eigenheiten des Kindes und lässt sich von ihnen leiten. Schließlich und endlich ist die stillende Frau sozial fest in einer Community gleich gesinnter Väter und Mütter integriert.
Ratgeber entwerfen einen „Idealtyp Mutter“
Ähnlich erfolgreich wie das „Stillbuch“ sind Remo Largos Bestseller „Babyjahre“ und „Kinderjahre“. Obgleich sie sich von der normativen Kraft anderer Ratgeber deutlich distanzieren, entwerfen auch sie einen Idealtyp Mutter. Mütter sind geborene Entwicklungspsychologinnen, fördernde Managerinnen und dienende Führerinnen; Largos Bücher lesen sich wie Ratgeber für eine innovative Unternehmensführung. Die gute Mutter bei Largo kennt und achtet die Bedürfnisse und entwicklungsspezifischen Eigenheiten ihres Kindes. Sie begegnet ihnen verständnisvoll und angemessen.
Im Sinne der dienenden Führerin schafft sie für ihr Kind eine entwicklungsgerechte Umwelt, macht Angebote, fördert Selbstentwicklung und Eigeninitiative. Ihr Verhalten ist kindgemäß. Dem Drang nach Selbständigkeit ihres Sprösslings folgt sie ganz und gar und setzt dabei auf die Prinzipien Selbstverantwortung und Hilfe zur Selbsthilfe. Fremdbestimmung liegt ihr fern. Stärken fördert sie, Schwächen akzeptiert sie und hilft dem Kind dabei, mit ihnen zu leben. Vorbehaltlos nimmt sie ihr Kind an und steht auf seiner Seite. Leiten lässt sie sich im Umgang mit dem Kind von ihren Beobachtungen und Intuitionen.
Insgesamt gibt die Largo-Mutter die Rahmenbedingungen vor, stets aber im Bestreben, sie bestmöglich an individuelle Bedürfnisse und Entwicklungseigenheiten des Kindes anzupassen. Sie schafft einen geregelten Tagesablauf und Orientierung. Ihrem Kind ist sie intensiv zugewandt, verfügbar, verlässlich und kontinuierlich. Sie vermittelt dem Kind Geborgenheit und Sicherheit. Wie bei Lothrop ist die Mutter auch bei Largo über die eigene Erziehung, die negativen Erfahrungen hinausgewachsen. Sie ist selbstsicher und selbstbewusst. Das Leben und Zusammensein mit ihrem Kind erlebt sie als befriedigend, die Verantwortung teilt sie sich mit anderen Personen.
Mutter als Anführerin, als dienende Führerin
Auch im Dreikurs/Stolz „Kinder fordern uns heraus“, Dauerbrenner seit seinem erstmaligen Erscheinen 1964, begegnet uns das Motiv der Mutter als Anführerin, als dienende Führerin. Auch sie hat die traditionelle Pädagogik hinter sich gelassen und neue Methoden des Umgangs mit dem Kind erlernt. Auch sie versteht das Kind und seine Verhaltensweisen, auch sie vermittelt das Gefühl der Geborgenheit und befördert die Selbständigkeit. In der Erziehung lässt sie sich vom Prinzip der natürlichen Folgen leiten, statt zu bestrafen oder zu belohnen. Sie verzichtet auf Kritik, kann Tat und Täter unterscheiden und ist sich bewusst, dass nicht das Kind, sondern nur seine Tat schlecht ist. Sie achtet das Kind und ist in ihrem Umgang mit ihm die Selbstbeherrschung, Selbstsicherheit, Klarheit und Freundlichkeit in Person. Statt zu reden, handelt sie.
Die ideale Mutter ist selbst glücklich und zufrieden
Kurz und bündig ist die Botschaft von Steve Biddulphs „Das Geheimnis glücklicher Kinder“: Die ideale Mutter ist selbst glücklich und zufrieden, und wie bei Dreikurs/Stolz ist sie bestimmt in ihrem Auftreten, innerlich gefestigt, zuversichtlich und entspannt. Ihrem Kind hört sie aktiv zu und beeinflusst es positiv.
Ratgeber lieber zu Seite legen
Die Vorstellungen von der idealen Mutter in den besprochenen Ratgebern sind vielfältig und betreffen die unterschiedlichsten Verhaltens- und Denkweisen von Frauen und Kindern. In einem sind sich diese Ideale aber alle gleich: Mütter sind über sich hinaus gewachsen, sind in höchstem Maße selbstreflektiert und selbstbewusst. Es sind moderne, sich selbst annehmende, souveräne, dynamische leistungsstarke Frauen, die genau wissen, was und wie sie es tun. Diese Ideale sind Zielvorgabe für werdende und junge Mütter, für ihr Denken, Leben und Handeln. Dass sich dies angesichts der Herausforderungen eines Lebens mit Kindern und der oft zermürbenden Alltagserfahrung schnell zur Überforderung auswächst, ist verständlich.
So bleibt zum Schluss vor allem ein Rat, wie mit solchen Ratgebern umzugehen ist: Sie gehören zur Seite gelegt, wenn die Bilder von Mutterschaft und Glück zu weit vom eigenen Erleben entfernt sind, wenn die Suche nach Mutterschaft zur Last wird. Weiterlesen sollte sie, wer die enthaltenen Ideale als Ideen lesen kann, die die Gestaltung des Alltags mit Kindern erleichtern.
Elisabeth Mantl