Der schwere Weg zur Verzeihung
Um sich zu verzeihen und einen neuen Anfang zu finden, müssen zerstrittene Paare sich einander völlig ausliefern – wie in der Sexualität, weiß der Eheberater Ulrich Hoffmann.
Eine Kultur des Streitens entwickeln
Es war nach dem dritten Abend einer „Ehe-Inventur“, einem dreiteiligen Seminar für Paare, als Marlies und Günther mich ansprachen: „Wir möchten ja gerne nach 23 Ehejahren einen neuen Anfang wagen. Aber immer wieder fallen wir zurück in die alten Muster von Vorwürfen und Gegenvorwürfen und werden eingeholt von all dem, was wir einander schuldig geblieben sind. Unser Streiten kostet uns enorm viel Kraft, und dabei haben wir das Gefühl, einfach auf der Stelle zu treten.“
Vielen Paaren geht es wohl ähnlich wie Marlies und Günther: Die „Leichen“ im Keller, in dem viele alte Verletzungen, Kränkungen und Vertrauensbrüche eben nicht „in Frieden ruhen“, sondern bis heute weiter spuken, verhindern einen neuen Anfang. In akuten Streitsituationen werden diese „Dämonen“ wieder aktiv und heizen den Ehekrieg zusätzlich an. Umso schwerer fällt es Paaren, angemessen zu streiten, eine Kultur des Streitens zu entwickeln, die zur Liebe dazugehört. Und umso schwerer finden sie in ihrem Streit ein versöhnliches Ende, das ihnen eine konstruktive Bewältigung des Konflikts ermöglicht.
Holt die Leichen aus dem Keller!
Also müssten Marlies und Günther endlich versuchen, die Leichen gegenseitiger Verletzungen aus ihrem Keller herauszuholen und endlich zu begraben. Ich bot ihnen an, dabei zu helfen.
Beim ersten Treffen schlug ich ihnen vor: Beide sollten, jede/r für sich, die Beschuldigungen, Anklagen und alten Kränkungen auflisten, auf die sie/er in Zukunft verzichten wollten. Alles andere als eine leichte Aufgabe; viele Paare sind es nicht gewöhnt, ihre tiefsten Gefühle über ihre Beziehung zu Papier zu bringen und einander zugänglich zu machen. Auch Marlies und Günther brauchten einige Zeit, bis sie sich auf diese Weise einander mitteilen konnten, aber es war für sie ein heilsamer Weg. Sie konnten sich dabei von einem altbekannten Spiel in ihrer Ehe verabschieden: Bisher schoben sie einander gerne die Schuld für alles Mögliche zu, immer hin und her. Dabei fügten sie einander nicht nur eine Kränkung nach der anderen zu. Nicht verlieren zu können, keine Kritik zu vertragen, immer Recht behalten zu müssen, das letzte Wort haben zu wollen, ist zudem ein entwürdigendes Spiel für beide. Denn auch der „Sieger“ mag zwar einen Streit auf diese Art „gewinnen“, aber die Liebe des anderen verliert er womöglich. Recht haben macht einsam.
Mich ganz in die Hand meiner Frau/meines Mannes begeben
Ermutigt durch die Erledigung der ersten Aufgabe wagten sich Marlies und Günther an eine weitere, eine Aufgabe mit zwei Teilen: Im ersten ging es darum, die eigene Schuld, das eigene Versagen zu erkennen, dem Partner einzugestehen und dafür um Verzeihung zu bitten. Dazu muss ich erst selbst begreifen, auf welche Weise ich dem anderen Schmerz, Enttäuschung, Leid und Verzweiflung zugefügt habe und immer noch zufüge. Das ist nicht nur beschämend, sondern macht auch verwundbar. Doch genau darum geht es: mich ganz in die Hand meiner Frau/meines Mannes zu begeben. Es ist wie bei der Sexualität: So risikoreich es ist, sich völlig hinzugeben, so ist doch die Hingabe Voraussetzung für höchste Lust und Erfüllung.
Der zweite Teil der Aufgabe: Marlies und Günther sollten sich genauso klar die Fehler des/der anderen vor Augen führen und die Schmerzen, die sie dadurch erlitten hatten. Der/dem anderen diese Fehler aus tiefstem Herzen zu verzeihen, ist vielleicht noch schwieriger als der erste Teil der Aufgabe.
Ich lud Marlies und Günther ein, einander Briefe zu schreiben, in denen sie um Verzeihung bitten und selbst verzeihen. Dabei schärfte ich ihnen ein: Versteht diese Bitte um Verzeihung nicht so, dass Euer Partner darauf eingehen muss; dann wäre es ja bloß ein formaler Akt im Rahmen der „mitteleuropäischen Höflichkeit“. Ihr könnt, dürft und sollt beide mit aller Klarheit und Ehrlichkeit reagieren.
Ein Trauerjahr vor der Vergebung
Das war mir wichtig: Marlies und Günther sollten entweder aus voller Überzeugung erklären: „Ja, ich kann Dir aus ganzem Herzen verzeihen und werde Dir die Fehler, die Du ansprichst, in Zukunft nicht mehr vorwerfen.“ Oder, auch wenn es für den/die andere/n noch so hart wäre, ehrlich einräumen: „Nein, ich kann Dir jetzt noch nicht verzeihen, weil ich noch zu verletzt, zu betroffen von diesen Fehlern bin. Wenn ich soweit bin, Dir verzeihen zu können, werde ich es Dir mitteilen.“ Bis dahin kann mitunter viel Zeit vergehen; ich kenne einen Mann, der sich von seiner Frau für diese Verzeihung fast ein ganzes „Trauerjahr“ erbat.
Marlies und Günther schafften es, einander ehrliche Briefe schreiben. Und sie merkten bei ihrem Weg zu einem Neuanfang, wie viel Würde darin liegt, zu verzeihen und um Verzeihung zu bitten. Die Bitte um Verzeihung und die Bereitschaft zu verzeihen machen uns gewissermaßen nackt. Doch erst im Eingestehen und Zugestehen unserer Fehlerhaftigkeit können wir eine Beziehung weiterentwickeln, Vertrauensbrüche und Konflikte der Vergangenheit durcharbeiten und verarbeiten – und das heißt auch: verzeihen.
Ich verneige mich feierlich vor Dir
Viele Paare entwickeln zwar sehr kreative Rituale, sich zu entwürdigen, aber keines, um sich gegenseitig zu würdigen. Zum Abschluss ihres Versöhnungsweges lud ich Marlies und Günther deshalb ein, einander zu zeigen, wie sehr sie sich wertschätzen und achten: Ich schlug ihnen vor, sich voreinander langsam, tief und sehr bewusst zu verneigen und dabei die Hände zu falten oder vor der Brust zu kreuzen – ein Ritual, das die Einzigartigkeit des Partners mit all seinen Stärken und Schwächen würdigt und umgekehrt die Würdigung des Partners entgegennimmt. Es gibt, hoffe ich, Paaren wieder ein Stück weit das Gefühl für das Besondere, für den Glanz ihrer Beziehung zurück, das gerade in langjährigen Beziehungen oft durch Alltagstrott, Routine und Streit verloren gegangen ist.
Anschließend haben Marlies und Günther ihre neu gewonnene Liebeskultur gebührend gefeiert: mit einem guten Abendessen, einem edlen Tropfen und vielleicht auch noch ganz anders …
Ulrich Hoffmann