Schule- ein Lernfeld für Eltern?

Mit Büchertasche und Schultüte geschmückt betritt unsere sechsjährige Tochter Katharina zum ersten Mal das Klassenzimmer ihrer Grundschule. Seit Monaten freuen wir uns auf diesen Tag.

Fragen – Unsicherheiten - Ängste

Vielfältig waren die Vorbereitungen: Elternabend, persönliche Schulanmeldung mit Elterngespräch und kleinem Test, Besorgung der nach neuesten orthopädischen Erkenntnissen optimalen Schultasche, Bestellung eines Fototermins, Anprobe und Auswahl des richtigen Kleides, Kauf von Stiften und Arbeitsmaterialien etc. Diese Pflichten erledigen wir gerne. Möchten wir unserem Kind doch einen optimalen Start ins Schuldasein und damit ins Leben der »großen weiten Welt« ermöglichen. Und die Schule verhilft ihm zu dieser Erweiterung des Lebenshorizonts.

Vor dem Kind unausgesprochen, aber in unseren Köpfen spielen sich noch andere Szenarien ab. Es tauchen Gedanken der Unsicherheit, der Fragen, der Ängste auf:

  • Kommt unser Kind in der neuen Klassengemeinschaft zurecht?
  • Wird der Lehrer einen Draht zu unserem Kind finden?
  • Mit welchen neuen Freunden (= neuen Einflüssen) wird mein Kind Bekanntschaft machen?
  • Ist unser Kind den Leistungsanforderungen der Schule gewachsen?
  • Wie können wir unserem Kind helfen, die Schulzeit erfolgreich zu bestehen?
  • Was passiert, wenn wir — vielleicht in einigen Jahren — die Haus- und Schulaufgaben nicht mehr kontrollieren können?

Ob es da vielleicht eine »Schule«, eine Weiterbildung für Eltern geben könnte? Möglicherweise finden wir irgendwo einen Kurs mit dem Thema »Wie können wir besser Eltern sein?«. Ein Blick in das Veranstaltungsangebot der Volkshochschule oder des katholischen Kreisbildungwerkes enttäuscht uns aber.

Beim Stadtbummel am Wochenende nehmen wir uns etwas Zeit, um in der Buchhandlung zu schmökern. Wir lassen uns in der Abteilung für Pädagogik und Psychologie nieder. Und siehe da!

Lernen ist Verhaltensänderung durch Erfahrung

Beim interessierten Durchblättern eines Buches springt uns gleichsam eine Definition von Lernen an: Lernen ist Verhaltensänderung durch Erfahrung. Erfahrungen haben wir freilich schon genug gemacht. Erfahrungen mit Unterrichtsstoff, mit Lehrern, mit Freunden, mit Verhaltensweisen. Gute und schlechte Erfahrungen! Denn schließlich hat Katharina einen um fünf Jahre älteren Bruder namens Benedikt, von dessen Schul- und sonstiger Erfahrung wir stundenlang erzählen könnten.

  • Da konnte Benedikt tatsächlich die halbe Nacht nicht schlafen, weil am nächsten Tag der verhasste Deutsch-Aufsatz drohte. Bisher hatte er ja noch ganz annehmbare Noten, aber ob er die so halten würde? Doch hatte er Angst vor dem Aufsatz, vor seinen eigenen Ansprüchen oder vor unserer Reaktion auf ein eventuelles Versagen? Wir lernten, ihm und uns klarzumachen: Die Schule ist ein Ort in deinem Leben.
    Du kannst aber bei vielen anderen Gelegenheiten deine menschlichen Qualitäten ebenso beweisen. Du bist nicht nur Schüler, sondern auch Sohn, Bruder, Freund, Ministrant, Fußballspieler, Musiker, ... Der Mensch Benedikt definiert sich nicht durch ein Zeugnis.
  • Bei der Durchsicht von Arbeitsblättern und Heften waren diese das Spiegelbild von Federmäppchen, Schultasche oder Schreibtischfächern. Ordnung schien unserem Sohn ein Fremdwort zu sein. Nun ist die Versuchung — gerade der Mütter — groß, im Zimmer »endlich einmal für Ordnung zu sorgen«. »Aber in Zukunft bist du selbst dafür verantwortlich!«, lautet die vertrauensvolle Botschaft. Doch die Zukunft dauert nicht einmal eine Woche und die Verfassung von Zimmer und Arbeitsblättern war wieder auf dem gleichen Niveau! Und wenn Mama wieder einmal für Ordnung sorgte, dann .. .
    Wir lernten, ihm und uns klarzumachen: Die Ordnung, die zur Bewältigung unserer Aufgaben notwendig ist, können wir uns selbst geben. Immer und immer wieder zu Ordnung anzuhalten und angehalten zu werden ist für Eltern und Kinder oft ein schmerzlicher und manchmal auch aufreibender Prozess. Freilich lernten wir alle dabei: Die Zeit, die ich für ordentliche Arbeit (Kind) und konsequente Kontrolle (Eltern) benötige, bekomme ich doppelt zurück.
  • Benedikt zeigte uns nach relativ kurzer Arbeitszeit die erledigten Hausaufgaben. Der schriftliche Teil war einigermaßen ordentlich erledigt. Die Frage nach dem Lernstoff beantwortete er gerne mit »Kann ich schon!«. Darüber freuten wir uns, waren wir doch mit vielen weiteren zeitintensiven Aufgaben belastet. Die Proben in der Schule brachten allerdings die Ernüchterung. Viele Lerninhalte — ganz zu schweigen von den Denkfragen — standen nur bruchstückhaft oder gar nicht auf dem Aufgabenblatt. Benedikt war über seine eigene Leistung verwundert und enttäuscht. Die Enttäuschung übertrug sich zeitweise auf das Fach und den Lehrer.
    Wir lernten, ihm und uns klarzumachen: Auch wenn das Kind ehrlich überzeugt ist, den Stoff zu beherrschen, genügt das nicht unbedingt den Anforderungen der Schule. Erst wenn es den Hefteintrag schriftlich oder noch besser mit eigenen Worten wiedergeben kann, sitzt das entsprechende Thema sicher. Uns Eltern blieb also das konsequente Wiederholen und Abfragen nicht erspart. Dazu gehörte übrigens auch die Schaffung einer guten Lernsituation.
    So bewährte sich eine feste zeitliche Struktur des Nachmittags. Verabredungen mit Freunden gab es grundsätzlich erst ab einer von uns mit dem Kind abgesprochenen Uhrzeit, die sich allerdings von Schuljahr zu Schuljahr änderte. Pausen zwischen den einzelnen Arbeitsabschnitten sind ebenso unverzichtbar wie ein ungestörter Arbeitsplatz. Die Folgen eines solch konsequenten Lernens waren Erfolgserlebnisse und letztendlich Zufriedenheit und weitere Motivation unseres Kindes.

In anderen Situationen lernten wir,

  • dass Vertrauen, Offenheit und Ehrlichkeit zwischen Kind, Eltern und Lehrern wichtiger sind als schulische Zensuren.
  • dass gerade Kinder unsere gefestigten Meinungen und Gewohnheiten hinterfragen und uns dazu zwingen, manche Standpunkte neu zu überdenken.
  • dass der regelmäßige Kontakt mit der Schule eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, Stärken und Schwächen des Kindes realistisch einzuschätzen, zu respektieren und daran zu arbeiten.
  • dass ein offener Austausch mit anderen Eltern manche Probleme klärt oder in ein anderes Licht rückt.

So lernten wir Tag für Tag, Woche für Woche und Schuljahr für Schuljahr, welche Bedeutung Schule für Kind und Eltern hat. Wir begriffen, dass wir durch den Umgang mit unseren Kindern, ihren Freuden und Problemen, ihren Schulkameraden und Lehrern unseren eigenen Horizont erweiterten und immer noch erweitern.

Aus den Unsicherheiten zu Benedikts Grundschulzeit entwickelte sich eine Neuorientierung, die unseren beiden Kindern zugute kam. So wurde das Neuland in manchem Bereich der Erziehung nach und nach durch viele Erfahrungen kultiviert. Und deshalb gilt auch für uns immer noch die Definition des Lernens vom Anfang: Unser Verhalten änderte sich.

Wir Eltern lernten durch die Schule

Die Kinder lernten in der Schule, weil ihnen von Lehrkräften Erfahrungen angeboten wurden. Wir Eltern lernten durch die Schule, weil wir an bestimmten Erfahrungen nicht vorbei kamen.
Wir machen zwar bei unserem zweiten Schulkind Katharina nicht alles anders, verhalten uns jedoch in vielen Situationen sicherer und bewusster, z. B.

  • Wir vergleichen die Ergebnisse der Kinder nicht mit denen der Mitschüler oder der Geschwister, sondern mit ihrer eigenen Leistungsfähigkeit.
  • Wir loben und ermutigen unsere Kinder bei guten Leistungen. Das gibt neue Motivation.
  • Uns interessieren nicht nur Stempel, Noten oder Punkte, sondern auch Hefte, Hausaufgaben und Themen des Unterrichts. Vormittägliche Unterrichtsinhalte werden so auch in der Lebenswelt unserer Familie bedeutsam.
  • Was die Kinder selber leisten können, sollen sie auch tun. Wir übernehmen nur die Aufgaben, wozu die Kinder nicht imstande sind.
  • Der Arbeitsplatz der Kinder ist ruhig und geordnet. Auf den Tischen liegen nur die gerade benötigten Materialien bereit.
  • Wir kontrollieren die mündlichen und schriftlichen Aufgaben am Ende der Hausaufgabenzeit. Das gibt den Kindern Sicherheit für den nächsten Unterrichtstag.
  • Das Ausleihen von Büchern aus der örtlichen Stadtbibliothek fördert nicht nur verstehendes und sinnvolles Lesen, sondern auch die Neugierde der Kinder an vielen Dingen unserer Welt. • Anstatt bei Unsicherheiten lange abzuwägen, helfen Anrufe bei anderen Eltern. Meist gibt es eine schnelle Lösung. Bei Unklarheiten können die Fragen am folgenden Tag in der Schule geklärt werden. Für solche Rückmeldungen sind auch die Lehrer dankbar.
  • Das Gespräch mit der Lehrerin während der wöchentlichen Sprechstunde ist sinnvoller als am überfüllten Elternsprechtag. In aller Ruhe können wir unsere Fragen anbringen, die Lehrkraft ihrerseits bekommt wichtige Informationen von uns.
  • Die Erlebnisse in der Pause und auf dem Schulweg sind für uns und die Kinder ebenso wichtig wie unterrichtliche Inhalte.
  • Wir machen Taschengeld, Geburtstagsgeschenke und vor allem unsere Zuneigung zu den Kindern niemals abhängig von den schulischen Leistungen. Das Kind muss spüren, dass es in jeder Situation bei uns Eltern einen sicheren Halt finden kann.

Eltern lernen nie aus

Freilich hat jedes Kind eigene Merkmale, Stärken, Schwächen und Bedürfnisse. Und so müssen wir Eltern täglich versuchen, den verschiedenen Persönlichkeiten unserer Kinder gerecht zu werden. Das erfordert genaues Beobachten, überlegtes und nicht übereiltes Entscheiden sowie sensibles Reagieren. Was sich in der Theorie so leicht anhört, ist im Alltag freilich die schwierigste Aufgabe, die es für uns Eltern gibt.

Deshalb sind unsere Kinder die beste Schule, an der wir Erfahrungen machen, eigenes Verhalten immer wieder hinterfragen und gegebenenfalls ändern. An den Kindern selbst können wir lernen, was wir ihnen vermitteln wollen: Wir alle — ob Kind, Mutter oder Vater — lernen nie aus!

Georg Niedermayer