Der Religionsunterricht - ein Platz für das Leben

Was Kinder über ihren Religionsunterricht denken: „Orts-Ansichten“ eines zukunftstiftenden Faches im Spiegel von Kinderäußerungen.

Religion: Das beglückendste Fach

„Religionsunterricht ist für uns Nachdenken, Sprechen, Fragen, Fühlen, Schauen, Hören, Mit-dem-Herzen-sehen, Schreiben, Malen und Stillwerden. Dabei geht es um Gott, um Jesus, um uns, unsere Gefühle, unseren Glauben, um unsere Welt, um die Bibel und die Kirche: eben um Religion.“

Diese Umschreibung des Faches Religionsunterricht fanden unsere Kinder am Ende der Grundschulzeit. Sie fassten in Worte, was sie erfahren hatten. Sie betonten, der Religionsunterricht sei zugleich das schwerste und das schönste Fach in der Schule, und hatten für beides dieselbe Erklärung: In Religion haben wir soviel selber zu tun und nachzudenken, da erklärten uns nicht alles die Lehrer.

Als Lehrer erlebe ich es genauso. Es ist das herausforderndste, aber auch das beglückendste Fach in der Schule. Ohne Religionsunterricht wäre die Schule ärmer und mir würden Perspektiven fehlen, die mir Kinder schenken. Religionsunterricht kann für alle zu einem einzigartigen Forum des Austauschs werden, einem „Platz für das Leben“, an dem Kinder und Erwachsene, Vergangenheit und Gegenwart, Erinnerung und Verheißung, Zuspruch und Anspruch, Gott und die Welt zusammenkommen. Wie das geschehen kann, sollen vier exemplarische „Orts-Ansichten“ des Religionsunterrichts im Spiegel von Kinderäußerungen vor Augen führen.

Ort der großen Fragen

„Warum gibt es eine Welt? Wer hat den Urknall geschaffen? Warum gibt es nicht nichts? Warum bin ich ich? Wie sieht Gott aus? Wer hat Gott erschaffen? Warum müssen Menschen sterben? Warum gibt es Krieg? Warum lässt Gott zu, dass Menschen leiden?“ Unzählige Fragen finden Platz im Religionsunterricht. Für viele Kinder ist er der intensivste Ort für große Fragen, wenn sie zusammen mit Gleichaltrigen in einer klar umschriebenen Situation zum Fragen herausgefordert und ermutigt werden. Schnell erfahren die Kinder, dass es menschlich, wert- und sinnvoll ist, Fragen zu stellen, denn sie stellen fest: „Wer fragt, weiß schon etwas. Wenn man direkt die Antworten findet, gibt es die Fragen nicht mehr. Es gibt Fragen, die kann man nicht beantworten, aber es ist gut, darüber nachzudenken. Es gibt Fragen, die kann man nicht beantworten, aber es gibt auf alle Fragen eine Antwort.“

Ort der sinn-vollen Erfahrung und der Suche nach Antworten

Die Stille ist ein Apfel, wenn er langsam reift. - Die Stille gibt laute Töne innendrin, aber außen ist sie ganz leise. - Die Stille ist wie ein Raum voller Geheimnisse. - Die Stille ist das Brüllen der Löwen, wenn sie schlafen. - Die Stille tut den Menschen gut wie allen Lebewesen.

Aus der Erfahrung von Stille und nach dem Hören eines Stille-Gedichtes schrieben Kinder ihre Sicht der Stille. Im Religionsunterricht kommen Lebenserfahrungen bilderreich zur Sprache. Kinder bekommen die Chance, das Leben vor sich hinzustellen, zu befragen und zu deuten. Zum Leben gehört für Kinder auch die Frage nach dem Tod. In der Auseinandersetzung mit Geschichten über Sterben und Tod entwickeln sie Perspektiven der Hoffnung, so z. B. in einem Trostbrief an ein Kinderbuch-Mädchen, dessen bester Freund gestorben ist:

Liebe Sara! Wenn jemand stirbt, den man sehr gerne hat, tut das sehr, sehr weh. Man fühlt sich einsam, weil er nicht mehr da ist. Am liebsten würde man sich verkriechen. So ist es mir auch ergangen, als mein Opa gestorben ist. Ich wollte einfach nicht verstehen, warum Gott das zugelassen hat. Zuerst wollte ich ihm böse sein, aber dann hat meine Mutter mir so einiges erklärt: Je lieber man einen Menschen hat, desto mehr denkt man an ihn, und wenn man ganz fest an jemanden denkt, kann man ihn mit seiner Seele spüren. Das hat der liebe Gott so gemacht. Runes Tod ist nicht sein Ende, seine Seele lebt. Du hast Rune praktisch in dir und damit ist er dir sehr nah. Sogar näher als früher, weil er ja nie mehr von dir weggeht. Immer, wenn du willst, kannst du ihn etwas fragen. Mache einmal die Augen zu, und versuche Rune zu sehen. Sei nicht mehr traurig, Rune ist jetzt beim lieben Gott und beide sind bei dir. Es geht Rune sehr, sehr gut. Frag ihn! Deine Tine

Ort der Begegnung mit der Bibel

Ich bin wie ein See ohne Wasser. - Ich versinke langsam in dem Sand, den du in deiner Hand hältst. - Der Tod ist die Trauer, die Geburt ist die Freude! - Ich bin wie Regen und Sonne, manchmal traurig, manchmal glücklich. - Du warst immer der, der hinter mir stand, ich danke dir dafür. - Du gabst mir Gestalt.

In verdichteten Sätzen äußern sich Kinder, nachdem sie sich intensiv mit Psalmworten auseinandergesetzt haben. Sätze wie „Ich bin wie ein zerbrochenes Gefäß.“ (Psalm 31,13) oder „Du bist Sonne und wärmst uns.“ (Psalm 84,12) bieten ihnen Hilfe an, Trauer und Klage zur Sprache zu bringen und dennoch Trost zu erfahren, Vertrauen zu bewahren und Hoffnung zu lernen. Die Kinder entdecken: Wir lesen die Bibel und zugleich liest die Bibel uns. Sie erfahren die Aktualität der „alten“ Bibelworte und die in ihnen mitschwingende Beziehung zu Gott: „Wenn man solche Sätze liest, merkt man, dass das für viele gilt.“ - „Gott kommt zwar nicht als Wort vor, doch man spürt, dass Gott in die Sätze mit eingewickelt ist.“
Auch Geschichten der Bibel können die Kinder zu eigenen Geschichten führen. So schreibt Yannick nach intensivem Kennenlernen der Gleichnisse Jesu sein (erfundenes) Gleichnis in der Sprache der Bibel:

Einmal sagten die Jünger zu Jesus: „Jesus, du hast viel von Gott erzählt. Erzähle uns einmal von dem Himmelreich.“ Da erzählte Jesus: „Es war einmal eine Mutter, die hatte großen Kummer. Ihr dreijähriger Sohn hatte eine schwere Grippe und der Arzt befürchtete, dass das Kind sterben müsse. Aber die Mutter versorgte und pflegte das Kind, auch wenn sie wusste, dass es bald sterben würde. Doch sie gab nicht auf. Die letzten Tage seines Lebens sollte der Junge so schön wie möglich haben. Doch eines Tages sagte der Arzt, dass es dem Jungen wieder viel besser ging und zwei Wochen später war er wieder ganz gesund. Diese Geschichte habe ich euch erzählt, weil ich will, dass ihr merkt, dass die Liebe stärker als der Tod ist.“ Damit endete Jesus die Geschichte und alle verstanden, dass, wenn sich eine Mutter so um ihr Kind sorgt, dass das wirklich wie im Himmelreich ist.

Ort der Gottesfrage, Gottesbegegnung und Gotteserkenntnis

Wir können Gott nicht sehen, aber er hinterlässt seine Spuren. – Gott ist still, aber spricht. - Gott selber hat keine Leiden, aber er leidet unter dem Leid der Menschen. - Gott ist klein, aber groß in der Liebe. - Gott ist nicht überall, aber bei jedem in der Nähe. - Gott ist weit, aber mir nah.

Diese Sätze über Gott mit „doppeltem Sinn“ zeigen: Kinder begegnen der Welt als Realisten mit offenen Augen. Doch zugleich sind sie Philosophen, Theologen und Mystiker, die nach den Ursachen hinter den Ursachen fragen und offen sind für den Unbegreifbaren, Unsagbaren und Unanschaubaren. Sie wissen um den Zusammenhang der Frage nach Gott und der Erfahrung der eigenen Identität. Sie erfahren Gott außerhalb und innerhalb ihrer Person. So kann der Religionsunterricht immer wieder zum Ort der Gottesbegegnung und Gotteserkenntnis werden, an dem die Kinder ahnen:

Die Tiefe Gottes ist so tief wie ein Brunnen. - Die Tiefe Gottes ist tiefer als das Meer. - Die Tiefe Gottes geht in die Unendlichkeit. - Die Tiefe Gottes ist im Himmel. - Die Tiefe Gottes ist in deinem Herzen. - Die Tiefe Gottes ist unsere Höhe.

Diese kleinen Einblicke in das Forum Religionsunterricht zeigt die Vielfalt dieses „Lebensplatzes“: Die großen Fragen der Menschheit stellen - Antworten suchen im Erzählen und Erinnern, im Gespräch mit der Bibel, im Fragen nach Gott - Gegenwart gestalten und Hoffnung für die Zukunft entwickeln. Diese Chancen bietet der Religionsunterricht mit Kindern. So kann er zu verantwortlichem Denken und Verhalten in Fragen von Religion und Glaube befähigen. So kann er mit Ausdrucksformen des Glaubens vertraut machen, Zugänge zu den biblischen Überlieferungen ermöglichen, zu Begegnungen mit Kirche und Gemeinde einladen, das Verständnis für Menschen anderer Konfessionen, Religionen und Kulturen fördern und zum bewussten Engagement für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung motivieren. So kann er dazu beitragen, gemeinsam mit Kindern in eine Zukunft zu gehen, in der Kinder (uns) etwas zu sagen haben, wie die „Rede an die Menschheit“ des 10jährigen Niklas eindrucksvoll zeigt.

„Hört mir zu, ihr Menschen!
Versucht Gutes statt Böses zu tun. Teilt das, was ihr habt. Hört nicht auf die Leute, die sagen: "Krieg, Krieg". Schafft alles vom Militär weg. Bestraft keine Leute, die vor 20 Jahren Unrecht getan haben, sondern sagt ihnen Gutes. Lasst alle Kinder in Frieden groß werden. Lasst alle Mütter ihre Kinder friedlich erziehen. Meint nicht, dass es Untermenschen gibt, überseht keine Menschen, sondern ladet sie ein. Versucht, alle kranken Menschen gesund zu pflegen, auch wenn sie grässlich aussehen. Gebt allen Menschen Zeit zum Überlegen.“

Rainer Oberthür