Wie sich der Glaube in Ritualen verankert

„Tschüss – mach’s gut!“ Oder: Ein Kreuzzeichen auf die Stirn – Gott behüte dich. Es ist ein Unterschied, ob ein Kind morgens mit oder ohne Segen seiner Eltern aus dem Haus geht.

Segensrituale sind alltagstauglich

Natürlich kann man davon ausgehen, dass Gott uns immer schon gesegnet hat, dass er uns immer schon liebt. Aber wir Menschen brauchen es sinnhaft ausgedrückt, damit wir es immer wieder neu verstehen können, gerade auch im schwierigen Alltag voller Unruhe und Hektik. Schon immer geschieht die Begegnung mit dem Heiligen in Ritualen. Wir Menschen sind darauf angewiesen, zu lernen, wer und was für unser Leben welche Bedeutung hat. Durch gemeinsames Handeln entstehen neue, manchmal überraschende Bedeutungen. Dem Kind am Morgen bei der Verabschiedung den Segen Gottes zuzusprechen ist eine solche Situation. Das Kind kann die Bedeutung, dass es von Gott radikal geliebt ist, dass Gottes umhüllt und es in seine Hand hineingeschrieben ist, in dieser kurzen Situation am besten „verstehen“. Ebenso einsichtig ist ein konsequentes Abendritual mit Kindern. Essen, waschen, Zähne putzen, Schlafanzug, und dann gibt es noch Vorlesen, über den Tag sprechen: Was war heute schön, was war nicht schön?

Zuwendung und Halt

Rituale am Ende des Tages geben Kindern Halt. Sie bieten Zuwendung, Einfühlsamkeit und vor allem auch noch einmal so etwas wie eine gemeinsame Oase, in der wir den Tag ausklingen lassen. Eines Abends las ich unserem damals sechsjährigen Benjamin aus der Bibel vor und habe mit ihm noch darüber gesprochen. Am Schluss gab ich ihm ein Kreuzzeichen auf die Stirn. Spontan richtete er sich im Bett wieder auf und segnete mich auch mit einem Kreuzzeichen. Nie werde ich diese mich zutiefst anrührende Situation vergessen! Familienreligiosität muss alltagstauglich und die Rituale sollen leicht umsetzbar sein. Rituale durchkreuzen das Übliche, unterbrechen die Hektik, bieten eine Oase, die leiblich und seelisch guttut. Vor dem Essen ein kurzes Gebet, das Kinder verstehen können: »Jedes Tierlein hat sein Essen, jede Pflanze trinkt von dir, hast auch unser nicht vergessen, lieber Gott, wir danken dir. « Wir reichen uns gegenseitig die Hände und wünschen uns einen guten Appetit.

Kinder brauchen liturgische Rituale

Wenn es keine Sonntage gibt, gibt es nur noch Werktage. Sich im Wochenrhythmus auf Gottesdienste einzustellen ist in der Regel die Entscheidung der Eltern. Viele Kinder sagen mir, dass sie gern in die Kirche kommen würden, aber ihre Eltern sagen: Am Sonntag schlafen wir aus.
Dass die Sonntagsgottesdienste auch für Kinder atmosphärisch und verstehbarer sein müssten, ist eine verständliche Kritik von Eltern in so mancher Gemeinde. Unsere katholische Kirche hat eine zweitausendjährige Ritualkompetenz. Sie muss allerdings ihre Rituale kreativ weiterentwickeln, damit sie verstehbar bleiben - ohne die Substanz und die darin sich verbergenden Goldstücke zu verraten. In den sonntäglichen Gemeindegottesdiensten ist mancherorts mehr Lebendigkeit, Kreativität, Verstehbarkeit, sind einfache, stimmige Rituale unerlässlich, wenn die »Initiation«, das Hineingehen und Hineingenommen- werden in das Leben, das Sterben und die Auferweckung Jesu Christi auch für die nachwachsende Generation wieder besser gelingen soll.

Begegnung mit Gott

Der besondere Charme und die Ausstrahlung unserer Kirche gründet gerade in den Ritualen, die sich über das ganze Jahr verteilt als Begegnung mit Gott anbieten: Nach den Sommerferien gibt es Segnungsgottesdienste für die Kindergarten- und Schulkinder. Im Oktober kommt das Erntedankritual in den Blick, das sowohl in den Kindergärten, den Grundschulen als auch in den Familien entsprechend vorbereitet und gestaltet werden kann. Im November war für mich als Kind ein Höhepunkt des Kirchenjahres der Martinusritt mit der Mantelteilung. Wir Kinder waren mit Laternen und Liedern dabei. Unvergesslich für immer - und hochaktuell heute angesichts der neuen Armut. Der Dezember mit seinen Adventskalendern - es gibt sehr gehaltvolle und im wahrsten Sinn bildende Adventskalender mit Geschichten.
Gerade hier sollte man auf Qualität achten. Kinder haben für ihre zarten Seelen schließlich wertvolle Bilder und Geschichten verdient und nicht irgendeinen oberflächlichen Schrott. Aber das schöne Bild allein macht es noch nicht. Die Adventsabende bringen Nähe, Licht, Atmosphäre der Solidarität. Sie sind für sich schon ein Ritual.

Weihnachten berührt Millionen

Der heilige Abend - in der Familie, im Krippenspiel des Kindergottesdienstes oder in der Christmette gefeiert - ist das große Ritual der Menschwerdung Gottes in dem kleinen Kind im Stall von Bethlehem. Ganz offensichtlich hat gerade dieses Ritual Millionen von Menschen so berührt, dass die Kirchen in aller Welt überquellen und vielerorts zusätzliche Gottesdienste gefeiert werden, um allen Platz zu geben. Interessanterweise ist der Jahreswechsel nicht mit einem starken religiösen Ritual besetzt. Dafür werden gleich anschließend die Kinder als Sternsinger zu Botschaftern und Botschafterinnen der göttlichen Welt in dem Mensch gewordenen Gottessohn. Der Aschermittwoch leitet die Fastenzeit ein. Karfreitag, Osternacht und Ostersonntag sind große Rituale, die auch familienorientiert gestaltbar sind. Kinderkreuzwege und vor allem die Feier der Ostemacht tragen in sich ihre eigene Ritualisierung.

Was Rituale bewirken

Familienrituale sind konkrete Realisierungen religiöser Werterziehung.

  • Kinder werden oft von sich wiederholenden ritualisierten Regeln und Handlungen geprägt, die eine wesentliche Voraussetzung für die Entwcklung des Ichs des Kindes bilden. Sie ordnen den Tag, das Jahr und das Leben.
  • Regelmäßig Wiederkehrendes gibt Sicherheit und Kraft. Soll Wahrnehmung und Erfahrung identitätsstiftend und persönlichkeitsstabilisierend sein, geht dies nur in der Wiederholung.
  • Da Lernen und die Einspeicherung von Gedächtnisinhalten immer auch emotional besetzt sind und später in ähnlichen Situationen und Stimmungen mit diesen Gefühlen wieder abgerufen werden können, begleiten sie uns durch das Leben und erinnern an diese Gefühle aus der Kindheit. Solche neuronalen Netzwerke können sich während des ganzen Lebens neu bilden und als eingespeicherte »Handlungsanleitungen« für ganz bestimmte Situationen dienen. Sie werden dann wieder abgerufen, wenn entsprechende Anforderungen an den Menschen gestellt werden. Dabei geht es nicht um die Erinnerung an einen Anlass, sondern um das „erinnerte Wohlbefinden“, Beispiel von der Geborgenheit in Gott.
  • Rituale helfen, die Schwellen des Lebens zu überschreiten. Sie helfen in Krisensituationen, das kognitive und emotionale System zu stabilisieren.
  • In Ritualen wird die Unterstützung des Einzelnen durch die Gruppe erlebbar, und das damit assoziierte Gefühl der Verwurzelung wird gefördert. Das Urvertrauen als das Gefühl, nicht fallen gelassen zu werden, wird verstärkt.
  • Rituale eröffnen eine Perspektive, die gleichzeitig die Vergangenheit achtet, die Gegenwart umgestaltet und Zukunft ermöglicht.
  • Erwachsenenrituale aktivieren Erinnerungen an die eigene Kindheit und rufen Gefühle der Sicherheit und des Aufgehobenenseins hervor; sie helfen Eltern dabei, das Leben ihrer Kinder zu ritualisieren, um diesen wiederum genau dieselben Gefühle vermitteln zu können.

Die Sakramente Taufe, Vergebung, Kommunion, kirchliche Trauung, Krankensalbung, Ordination integrieren als kirchliche Rituale viele der angesprochenen Bedeutungselemente und haben eine intensive Wirkung, wenn sie mit den Teilnehmern an diesen Ritualen zusammenentwickelt und erschlossen werden. Damit vernetzen sie auch die Lebensgeschichte und die Bedürfnisse der Betroffenen mit den vorgegebenen, seit langer Zeit bewährten Ritualen.

Gefühle prägen sich ein

Die Krise der religiösen Erziehung hängt zusammen mit der Krise des ritualisierten Lernens. Wenn religiöse Erziehung tatsächlich Spuren hinterlassen soll, geht es nicht ohne Rituale. Gerade in der Diskussion über die Gehirnforschung wird heftig darauf abgehoben, dass sich Wiederholungen, vor allem auch Lernsituationen, die emotional positiv besetzt sind - wie etwa ein Segensritual oder ein Abendritual -, intensiver in das Gedächtnis einprägen als dies eher oberflächliche und zufällige Lernerfahrungen bewirken können.

Albert Biesinger