Die geistliche Tagesschau
Das „Gebet liebender Aufmerksamkeit“ gibt dem geistlichen Leben auch in stressigen Zeiten in wenigen Minuten Halt und Stütze. Zum Beispiel in Phasen mit kleinen Kindern.
Rückgrat und unbedingtes Minimum geistlichen Lebens
Irgendein Abendritual kennen alle, die in Familie leben: je nach Temperament, Familientradition und Alter der Kinder in den Varianten Protestgeheul, „Weißt du, wie viel Sternlein stehen“, Abendgebet und Gute-Nacht-Kuss. Nach meinen Erfahrungen kombinieren die meisten diese Gestaltungsmöglichkeiten sogar. Aber auch Erwachsenen pflegen ihre Rituale, wenn auch weniger bewusst: die „Tagesthemen“, den letzten Kontrollgang durch die Wohnung, ein Betthupferl aus der Pralinendose. Diese mehr oder weniger aktiv gestalteten Rituale helfen, vom Tag in den Schlaf hinüberzufinden.
Immer schon haben Menschen das Abendritual bevorzugt religiös gestaltet, um sich vor der Nacht einer höheren Macht anzuvertrauen und gegen die Gefahren aus dem Dunkel in den „Schutzraum“ des Segens zu begeben. Auch in den geistlichen Traditionen des Christentums hat sich eine ganze Reihe von Abendritualen entwickelt, und viele von ihnen werden bis heute gepflegt: die Komplet als liturgisches Nachtgebet der monastischen Tradition, das Schutzengelgebet oder andere Formen fest formulierter Gebete, das „Vater unser“, das den Tag beginnt und auch wieder abschließt, aber auch Zeiten des stillen Verweilens vor Gott und des freien Gebets in den Anliegen des Tages. Eine solche Tradition hat sich im Umfeld der Exerzitienspiritualität herausgebildet, die auf Ignatius von Loyola zurückgeht. Einigen Älteren ist diese Form vielleicht noch als „Examen“ in (unguter) Erinnerung, bei dem hier und dort der ungnädige Blick auf die eigenen Verfehlungen sehr im Mittelpunkt stand. „Tagesrückblick“ beschreibt trocken und ein wenig technisch, worum es dabei geht. Erst vor wenigen Jahren kam ein dritter Name für die gleiche Grundform eines Abendrituals auf: das „Gebet liebender Aufmerksamkeit“. Und erst dieser dritte Name gibt wirklich etwas davon wieder, worum es geht. Der heilige Ignatius von Loyola schätzte dieses Gebet so sehr, dass er es seinen Ordensbrüdern als Rückgrat und unbedingtes Minimum geistlichen Lebens mit auf den Weg gab. Das Gebet liebender Aufmerksamkeit am Abschluss des Tages ist immer möglich, auch in den extremsten Situationen, wenn weder Eucharistiefeier noch regelmäßige Gebetszeit, wenn weder Bibellesen noch Meditation möglich sind; Ignatius hatte wohl Franz Xaver auf dem Weg nach Indien vor Augen, aber auch manche Phase mit kleinen Kindern ist so eine Zeit. Allein von diesem Gebet liebender Aufmerksamkeit kann man längere Zeit geistlich leben. Aber auch in „normalen“ Zeiten gibt es dem geistlichen Leben Halt, Stütze und Ordnung.
Das „Gebet liebender Aufmerksamkeit“
Vorweg eine Warnung für alle, die dieses Heft primär mit der Brille „Was kann ich mit meinen Kindern probieren?“ lesen: Das Gebet liebender Aufmerksamkeit ist eine Gebetsform für Erwachsene. Zwar können Elemente daraus auch mit Kindern geübt werden; aber alle Versuche in dieser Richtung setzen das persönliche geistliche Üben der Eltern voraus. Erst im Raum der lebendigen Erfahrung der Eltern sind die Versuche der Kinder sicher vor der Verkürzung auf moralisierendes Urteilen und Verurteilen.
Für dieses Gebet liebender Aufmerksamkeit als Abendritual möchte ich Ihnen eine knappe Form anbieten, die Sie sicher bereits beim zweiten oder dritten Versuch auswendig können. Der „natürliche“ Ort dieses Gebetes ist die Bettkante; es „geht“ auch, wenn Sie schon im Bett liegen – vorausgesetzt Sie sind nicht so erschöpft, dass Sie dann direkt einschlafen. Wenn Sie sieben bis zehn Minuten dafür einplanen, ist das schon ganz gut.
- Erster Schritt: Liebevoll wahrnehmen
Nach einer Eröffnung mit einem Kreuzzeichen oder einer anderen Formel, die Ihnen die Gegenwart Gottes in Erinnerung ruft, ist der erste Schritt dieses Gebetes, den Tag in seinen Begebenheiten, Begegnungen und inneren Bewegungen einzusammeln. „Was war?“, „Wem bin ich begegnet?“, „Wie war das für mich?“ sind die passenden Leitfragen. Wichtig dabei ist, dass Sie es verdient haben, dass man liebevoll und vorsichtig mit Ihnen umgeht. Auch Sie selbst sollten so liebevoll mit sich umgehen! Rufen Sie sich jedes Mal zur Ordnung, wenn Sie merken, dass Sie über sich (oder andere) urteilen – im Guten wie im Bösen! „Was habe ich/haben andere falsch gemacht?“ oder gar „Wo habe ich/haben andere gesündigt?“ gehören nicht hierher. Bei den ersten Versuchen werden Sie merken: Es ist gar nicht so leicht, nur aufmerksam, liebevoll wahrzunehmen, einzusammeln und nicht zu urteilen. - Zweiter Schritt: Liebevoll unterscheiden
Der zweite Schritt stellt das geistliche Unterscheiden in den Mittelpunkt. „Wo/Wie ist Gott heute für mich gewesen?“ „Wo erahne ich in meinem Leben heute eher das Wirken seines guten, Heiligen Geistes, der zu Freiheit, Lebendigkeit und Freude an Gott lockt?“ „Wo legt sich die Vermutung nahe, dass eher ganz andere Geister am Werk waren?“ (Ignatius spricht vom „Feind der menschlichen Natur“, die in Erstarrung, Überforderung, Unfreiheit und Enge zerren wollen?) Scheuen Sie sich anfangs nicht, sehr naiv und ungeschützt, einfach und direkt Ereignisse Ihres Lebens mit Gott in Verbindung zu bringen. Mit der Übung wächst das Gespür für die rechte Balance zwischen „kindlichem“ Vertrauen und kritisch-aufgeklärter Distanz.
Wenn Ihnen beim Unterscheiden Unterstützung gut täte: Der einfachste Weg besteht darin, einen geistlichen Begleiter oder eine geistliche Begleiterin zu suchen. Geistliches Unterscheiden ist deren Kernkompetenz. Das Exerzitiensekretariat Ihrer Diözese unterstützt Sie gerne auf der Suche. - Dritter Schritt: Vor Gott aussprechen
Der dritte und auch schon letzte Schritt ist, das liebevoll Wahrgenommene und vorsichtig Unterschiedene vor Gott in wenigen, frei formulierten Sätzen ins Wort zu bringen. Je nach Situation kann dieses Aussprechen eher Bitte, Dank, Lob oder Klage sein. Sprechen Sie dabei ruhig in Ihrer gewohnten Alltagssprache – wie mit einem guten Freund oder einer vertrauten Freundin. Als Abschluss eignen sich das „Vater unser“ oder der Gebetsruf aus der Komplet: „In Deine Hände lege ich voll Vertrauen meinen Geist. Du hast mich erlöst, Herr, Du treuer Gott.“ (Gotteslob, Nr. 699)
Wenn Sie Elemente des Gebetes liebender Aufmerksamkeit mit Ihren Kindern aufnehmen wollen, dann achten Sie bitte unbedingt darauf, dass es beim liebevollen Einsammeln des Tages bleibt und nicht ins Urteilen und Werten übergeht. Hier ist auch nicht der Ort pädagogischer Einflussnahme. Wichtiger als Vollständigkeit bei dieser „Tagesschau“ ist, den Kindern Hilfestellungen zu geben, das eigene innere Erleben, die Gefühle und Stimmungen ins Wort zu bringen. Den zweiten Schritt des Unterscheidens würde ich unbedingt auslassen. In ihrer oft noch bis weit in die Grundschulzeit anhaltenden magisch-naiven Weltsicht trauen Kinder Gott einfach alles zu. Wird diese Tendenz durch die Eltern noch verstärkt, kommt der Absturz mit dem erwachenden kritischen Bewusstsein umso dramatischer. Wohl aber können Sie entsprechend dem dritten Schritt mit Ihren Kindern üben, einen oder zwei betende Sätze über ihren Tag selbst zu formulieren – auch hier in allen Tonlagen von Klage bis Lob.
Peter Hundertmark