Lernen an den kleinen Toden
Wenn Eltern mit ihren Kindern die vielen kleinen Abschiede im Alltag bewusst durchleben, können sie bei existentiellen Verlusten darauf zurückgreifen, hofft Anna Neuman.
Dafür sind Kinder nicht zu klein
Das geliebte Kuscheltier geht verloren, die Familie des besten Freundes zieht weit weg, statt zu Hause zu spielen geht es jetzt in den Kindergarten, Opas Hund stirbt: Solche und ähnliche Erfahrungen bleiben kaum einem Kind erspart. Abschied nehmen, Sterben und Trauer gehören schon für die Jüngsten zum Lebensalltag. Trotzdem scheuen wir Erwachsenen uns davor, mit den Kindern darüber zu reden, Erfahrungen mit ihnen zu teilen und uns mit ihnen auch bei diesem (vor allem für uns?) so schwierigen Thema auf den Weg zu machen. Sollen wir verharmlosen und ablenken oder uns als hartgesottene Tatmenschen präsentieren, die „ihre Gefühle im Griff haben“? Oder mit ihnen weinen, der Trauer einen Raum geben?
Sind solche Erfahrungen in diesem Alter nicht eine Überforderung, zu belastend? „Dafür seid ihr noch zu klein!“, ist oft die gut gemeinte Ausflucht von Müttern, Vätern, Großeltern oder Pädagogen, wenn es um die Teilnahme der Kinder an einer Beerdigung, um einen Friedhofsbesuch der Kindergartengruppe oder um Bilderbücher über Tod und Trauer geht.
Aber gerade auch der Tod gehört zum Leben; diese Wahrheit wird häufig tabuisiert. Und wenn die Wirklichkeit das Thema dann unumgänglich auf die Tagesordnung setzt, macht der Tod viele sprachlos. Was soll ich sagen, wie soll ich alles erklären? Diese Fragen stelle ich mir ja auch als Erwachsene(r) und weiß keine Antwort … Umso mehr kommt es darauf an, die vielen Verlusterfahrungen, die „kleinen Tode“ im Leben von Kindern zu Lernerfahrungen zu machen und Abschiede „einzuüben“ – in der Hoffnung, dass sie dann beim Tod eines geliebten Menschen oder bei einer Trennung der Eltern darauf zurückgreifen und vertrauen können.
Der Trauer Raum und Zeit lassen
Ein alltägliches Übungsfeld für Abschied und Neubeginn eröffnen zum Beispiel der Jahreskreis und religiöse Bräuche: Mit den ersten Herbststürmen ist die schöne Zeit des Sommers endgültig vorbei, mit dem ersten Schultag nach den Sommerferien kehrt ein ganz anderer Rhythmus im Lebensalltag ein. Die Krippe wird nach der Weihnachtszeit wieder weggeräumt, die fröhliche Faschingszeit geht abrupt über in die Fastenzeit mit dem Auftrag zur Besinnung. An den Kar-Tagen herrschen Abschied, Trauer und Tod – aber gerade jetzt können Kinder spüren, dass das Leben nicht an diesem Punkt stehen bleibt, sondern dass die Trauer sich wandelt und sich mit Ostern neues Leben entfaltet.
Die wichtigsten Leitlinien für Eltern, die ihre Kinder als Ansprechpartner bei Verlusterfahrungen, in schwierigen oder sogar existentiellen Situationen begleiten wollen, sind Ehrlichkeit, Natürlichkeit und möglichst auch Sachlichkeit:
• Gut, wenn ich mich an eigene Verlusterfahrungen in meiner Kindheit zurückerinnere; das hilft mir, mich besser in die Situation meines Kindes hineinzuversetzen, mir auch vorstellen zu können, wie wichtig es ist, dass ich mein Kind in seinem Schmerz über die zerbrochene Freundschaft oder den Abschied vom Kindergarten ernst nehme, dass ich jetzt einfach zuhöre, dass mein Kind erzählen kann, was gerade besonders schwer ist – und natürlich auch, was Mut macht.
• Es ist sinnvoll, der Trauer Raum und Zeit zu lassen – und der Versuchung zu widerstehen, das Kind vorschnell trösten zu wollen und deshalb (zum Beispiel) das geliebte Haustier sofort zu ersetzen.
• Es lohnt sich, gemeinsam mit dem Kind auf die Suche nach Antworten zu gehen. Kinder sind geborene Philosophen; viele Fragen können wir ihnen also einfach zurückgeben: Was glaubst du, wo die Oma jetzt ist? Wo ist wohl der Himmel? Wie geht es wohl jetzt deinem Freund, der weggezogen ist? Hat es vielleicht auch eine gute Seite, dass deine Lieblingslehrerin im nächsten Jahr deine Klasse nicht mehr übernimmt?
• Bei unseren Erklärungen für alles, was das Kind wissen möchte, sind zunächst Wahrhaftigkeit und Sachlichkeit gefordert: „Ja, der Vogel ist tot.“ Oder auch: „Nein, dein Kuscheltier können wir nicht mehr aus Spanien holen.“ Auch beim Tod eines geliebten Menschen müs sen wir das offen aussprechen statt zu verschleiern: „Sie ist gestorben; sie wird nicht wiederkommen. Es wird nicht mehr sein wie früher.“ Und nicht etwa: „Sie ist auf einer sehr langen Reise.“ Oder: „Sie ist friedlich eingeschlafen.“
• Aber auch die eigenen Gefühle sollten zur Sprache kommen. Das gilt genauso für Großeltern, gute Bekannte und andere, die über ihre Erfahrungen von Verlust und Trauer sprechen:
„Auch für mich war es ganz schwer, als meine Eltern damals an einen anderen Ort zogen; ich war gerade sieben Jahren alt. Ich hatte plötzlich niemanden mehr, der mit mir ,unsere‘ Spiele spielte, mit dem ich einfach rausgehen und rumstreifen konnte.“ Oder: „Als unsere
Momo damals starb, hab’ ich ganz viel geweint. Meine Eltern haben versucht, mich zu trösten, aber egal was sie auch Liebes sagten, es half nicht. Aber es war schön, wenn sie einfach ganz still bei mir saßen und mich gedrückt haben. Wenn ich andere Hunde sehe, denke ich auch heute noch oft an Momo, aber es tut nicht mehr so sehr weh im Herzen. Ich werde sie nie vergessen.“
• Auch wenn wir als Eltern unseren Kindern gerne ein positives Weltbild vermitteln: Wir dürfen ihnen auch zumuten, dass es nicht auf alle Fragen des Lebens schlüssige Antworten gibt: „Dinge passieren, die wir gerne anders gehabt hätten. Aber oft können wir nicht mitentscheiden, oder wir schaffen es nicht, den Lauf des Geschehens zu verändern.“ Oder: „Wir haben viele Fragen, die mit ,Warum‘ beginnen. Aber auf manche Fragen finden wir Menschen einfach keine Antwort.“ Oder: „Ich weiß nicht, warum der liebe Gott nichts getan hat. Ich weiß auch nicht, warum er uns so viel Schmerz zumutet. Ich weiß nur, dass er den Menschen versprochen hat, immer bei ihnen zu sein. Er ist jetzt sicherlich still bei uns und bei ihr.“ Oder: „Wo ist sie nun?"
Ich glaube, dass alles Leben von Gott kommt und wieder zu Gott zurückgeht. Ich bin sicher, sie hat bei Gott nun eine neue, ewige Heimat. Auch wenn ich mir nicht genau vorstellen kann, wie dieses neue Leben aussieht.“ Trotz aller bleibenden Fragen, trotz allen Schmerzes sollten Mütter und Väter ihren Kindern das Gefühl vermitteln: Abschied, Verlust, Trauer und Tod gehören zum Leben. Und in jedem Abschied ist ein Neuanfang möglich.
Anna Neumann