Enthetzt euch - Warum wir am Zeitwohlstand vorbeirennen
Wohlstand wird in unserer Gesellschaft weitgehend mit materiellem Wohlstand gleichgesetzt. »Zeitwohlstand« dagegen wird mit dem Begriff des Wohlstandes selten assoziiert.
Sehnsucht nach Zeitwohlstand
Im Wohlstand, so unser Alltagsverständnis, lebt jemand, der Immobilien sein Eigen nennt und dem für die Mobilität ein Wagen der gehobenen Klasse mit allen technischen Insignien der Industriegesellschaft zur Verfügung steht. Zuallererst jedoch gehört zum Status derer, die sich im Wohlstand wähnen, dass sie keine Zeit haben. Sie leben nach dem Horvath'schen Motto: »Eigentlich bin ich ganz anders, nur komm' ich so selten dazu«. In diesem Satz, der die Realität einer sich in Hektik auflösenden Gesellschaft aus der Sicht des Individuums beschreibt, klingt die Sehnsucht nach Zeitwohlstand an. Es ist der Wunsch, die Zeit nicht immer gewinnen und nicht immer beherrschen zu müssen. Denn das müssen wir, um zu materiellem Reichtum zu gelangen. Unser Güterwohlstand ist durch einen Zeitnotstand erkauft.
Wir machen aus der Zeit ein Geschäft und verhalten uns geschäftlich in ihr und zu ihr. Die Fiktion, wir könnten Zeit gewinnen, ist zur Alltagserfahrung geworden. Beschleunigung ist der Fetisch der Moderne. Dies ist, und darauf hat Karl Marx aufmerksam gemacht (von dessen Erkenntnissen fälschlicherweise angenommen wird, sie hätten ihr Verfallsdatum überschritten), in der Logik des kapitalistischen Verwertungsprozesses grundgelegt. Im Hinblick auf die Beziehung von Zeit und Subjekt formuliert er im »Elend der Philosophie« prägnant: »Die Zeit ist alles, der Mensch ist nichts mehr, er ist höchstens noch die Verkörperung der Zeit«. Die Herrschaft der Zeitökonomie zu Lasten des Menschlichen und der Menschen ist nicht nur eine, die den Produktionsprozess bestimmt, sie beherrscht ebenso den Konsum-, den Sozial- und den Bildungsbereich.
Zeitwohlstand existiert in einer Gesellschaft, in der sogar die Nasen mit Tempo geputzt werden, nur mehr als Sehnsucht. Der dem Alltagsleben der Industriegesellschaft eigenen zwanghaften Beschleunigungswirtschaft korrespondiert der Traum der dieser Logik unterworfenen Individuen, frei von Zeitzwängen zu sein. Der Verpflichtung, die Zeit zu nutzen, sie zu gewinnen, sie zu sparen, kontrastiert das phantastische Bild einer unschuldigen Muße, eines goldenen Zeitalters, in dem Zeit keine Rolle spielt. Die Literatur eines Rabelais, eines Robert Walser, eines Hermann Hesse, eines Stan Nadolny, sie lebt von dieser Sehnsucht; und die Käufer dieser Literatur leben ihre Sehnsucht nach Zeitwohlstand darin aus. In diesen Texten findet man auch viele Hinweise darauf, wie Zeitwohlstand aussehen könnte.
Zwei Episoden machen deutlich, warum wir am Zeitwohlstand vorbeirennen und vorbeifahren
Als erstes eine Geschichte der Chassidim, jener Anhänger einer im 18. Jahrhundert entstandenen religiösen Bewegung des osteuropäischen Judentums, die ihre Überzeugungen bevorzugt in lebendigen Episoden ausdrückten.
Der Rabbi sah einen auf der Straße eilen, ohne rechts und links zu schauen; »Warum rennst du so?« fragte er ihn. — »Ich gehe meinem Erwerb nach«, antwortete der Mann. — »Und woher weißt du«, fuhr der Rabbi fort zu fragen, »dein Erwerb laufe vor dir her, dass du ihm nachjagen musst? Vielleicht ist er dir im Rücken und du brauchst nur innezuhalten, um ihm zu begegnen, du aber fliehst vor ihm.«
Ein kurzer Text, eine schlichte Frage, fast selbstverständlich und nahe liegend und doch stellt sie unser alltägliches Handeln radikal auf den Kopf. Die Geschichte macht darauf aufmerksam, dass Hetze, Beschleunigung, Eile etwas mit Flucht zu tun haben, und so gesehen fliehen wir unentwegt, vor dem Tode und auch vor dem möglichen Zeitwohlstand.
Zu dem zu kommen, was man ist oder glaubt zu sein, das wäre Zeitwohlstand. Dazu gehört es auch, dem Druck zu widerstehen, sich immer ändern zu müssen, weil sich die Umstände ändern. Warum sollen sich nicht einmal die Umstände so ändern, dass man bleiben kann, was man ist?
Als zweites die Schilderung einer Begebenheit, von der nicht sicher ist, ob sie jemals so stattgefunden hat. In einem dieser schnellsten Züge unserer Republik, in dem den Fahrgästen wegen der häufigen Tunneldurchfahrten Sehen und Hören vergeht, sitzt ein Passagier, der es unterlassen hat, sich einen für diesen Expresszug notwendigen besonderen Fahrschein zu kaufen. Der kontrollierende Schaffner fordert ihn auf, das erhöhte Fahrgeld nachzuzahlen. Auf die Frage des Passagiers, warum dies notwendig wäre, erklärt ihm der Schaffner: »Weil dies' ein so schneller Zug ist.« Die zeitsouveräne Reaktion des Fahrgastes darauf: »Dann fahr'n Sie doch langsamer«. Wohl dem, der sich solche Antworten leisten kann, so jemand lebt im Zeitwohlstand.
Richtiger Wohlstand ist immer auch Zeitwohlstand
Zeit muss man in den Blick, nicht in den Griff bekommen. Wir sollten aufhören, uns über das Ziel der Zeitersparnis selbst zum Gegner zu machen. Positiv gewendet heißt das, wir sollten alles das wieder wahrnehmen, was man »Eigenzeiten« nennen kann, auf das hören, was um uns abläuft, in der Natur und der sozialen Umgebung um uns herum. »Pflegt die Chronotope!«: Das wäre das Motto einer Kultur, die nicht nur ablenkt. Pflegt die Bereiche träger Produktivität und macht das Warten zu mehr als nur zur Pflege eurer Autos. Sagt weniger oft »macht schnell« zu den Kindern und lebt nach dem Prinzip:
Wenn's Telefon nicht klingelt, ist es für mich. Gebt der Zeit endlich Zeit!
Richtiger Wohlstand ist immer auch Zeitwohlstand. Zeitwohlstand haben wir dann, wenn wir verfügbare Zeit haben, über die nicht verfügt wird, d. h. wenn wir uns von der uns bedrückenden Angst befreien, etwas zu versäumen. Dazu wäre noch viel mehr zu sagen. Tut mir leid, keine Zeit!
Karlheinz A. Geißler