Landmarken unseres Lebens

Freunde fürs Leben: Gibt es das noch in einer Gesellschaft, in der Mobilität beinahe schon als Qualität an sich erscheint? Und: Lohnt es sich überhaupt, sich darum zu bemühen?

Zeit und Mühen investieren

Ein Rezept für die Pflege von Freundschaften auf Distanz? So nach dem Motto: Man nehme ein wenig von diesem, ein wenig von jenem, ein Quäntchen davon, und fertig ist die Freundschaft fürs Leben? Mein Mann und ich haben umfangreiche Erfahrungen mit Freunden gesammelt, „dank“ einiger Umzüge aus der Nähe wie auf Distanz, aber wie es „wirklich“ geht, könnte ich bis heute nicht sagen. Zu verschieden sind die Beteiligten, die Prioritäten, die sie in Beziehungsdingen setzen, die Konstellationen. Immerhin lassen sich Freundschaften je nach ihrer Konstellation und Entwicklung in bestimmte Kategorien einteilen. Da gibt es welche – seltene –, die konstant, dauerhaft und regelmäßig verlaufen. Andere beginnen großartig und enden unerklärlich, manchmal kläglich. Einige wirken zunächst eher unwichtig, erlangen aber – nach einem Umzug, einem Schicksalsschlag, einer Lebenswende – plötzlich Bedeutung. Da sind Freundschaften, um die sich keine Seite wirklich bemüht, die aber bei Begegnungen sehr intensiv und erfreulich aufblühen. Solche, die sozusagen auf Standby laufen und jederzeit aktiviert werden könnten. Solche, die man nach Jahren der Funkstille wieder aufgenommen hat, bei denen man sofort die alte Nähe spürt und sich fragt, warum man eigentlich so lange nichts voneinander gehört hat. Und auch solche, in denen man plötzlich feststellt, dass sich unverhofft wie unerbittlich Distanz eingeschlichen hat. Und da sind Freundschaften, um die man sich selbst gar nicht oder wenig kümmert, in denen aber das Gegenüber nicht loslässt.

Eine Verhaltensregel gibt es aber schon: All dieser Freundschaften, inklusive der damit verbundenen Hoffnungen, Enttäuschungen und Freuden, könnten wir uns mit abweisendem, komplett passivem Verhalten sehr schnell entledigen. Umgekehrt heißt das, gerade wenn es um den Erhalt oder das Durchleben von Freundschaften auf Distanz geht: Wir müssen uns kümmern, Angebote annehmen, reagieren, uns interessieren, Zeit und Mühen investieren.

Freunde sind Zeugen unseres Daseins

Doch was bringt uns das eigentlich? Könnten wir uns nicht auf die aktuellen Freundschaften und Verbindungen am Wohnort beschränken? Sind wir damit nicht ausgelastet und emotional versorgt? Reichen nicht die verwandtschaftlichen Verbindungen und Verpflichtungen, die es meist auf Distanz zu pflegen gilt?

Für meinen Mann und mich ist ganz klar: Das reicht uns nicht. Die Freundschaften und Beziehungen aus verschiedenen Abschnitten unseres Lebens sind wie Landmarken unserer eigenen Geschichte, unseres Lebens als Paar. Sie verbinden uns über die verschiedenen Lebensstationen hinweg mit den eigenen Wurzeln. In unseren „alten“ Freunden erkennen wir uns selbst wieder, so wie wir einmal waren. Sie geben unserem gemeinsamen Leben Gerüst und Halt. Sie lassen uns erkennen, welche Strecke wir als Paar bereits geschafft haben, erinnern uns an Vergangenes. „Seine“ Freunde aus der Jugend zeigen mir auch, was für ein Mensch mein Partner früher war, geben mir eine Ahnung von seinen anderen Seiten, von den Geheimnissen, die doch immer im anderen stecken. Wir treffen uns selbst in unseren Freunden. Und wir entwickeln uns im besten Falle mit und an ihnen weiter. Sie sind Zeugen unseres Daseins.

Natürlich geben uns Freundschaften auch ganz leichte und schöne Dinge wie Geselligkeit, Spaß, Abwechslung, Austausch. Manchmal geben sie uns Rat und Hilfe. Manchmal geben sie uns auch nur zu denken, weil wir sie nicht verstehen. Manchmal ärgern wir uns über sie, weil sie unsere Erwartungen nicht erfüllen. Manchmal verlieren wir sie. Und dann hat es sich trotzdem gelohnt.   

Barbara  Sagel