Wenn Eltern ihre Kinder und die Schule überfordern

Ein Lehrer beschreibt seine Sicht auf Schule: auf Schüler, Lehrer und Eltern.

Die folgende Beschreibung basiert auf einer mehrjährigen Tätigkeit als „Verbindungslehrer" an einem Gymnasium mit ca. 1 400 SchülerInnen. Sie ist einseitig und subjektiv aus Lehrersicht geschrieben, wobei ich auch die Perspektiven als Vater aus eigener Erfahrung kenne.

Konfliktlösungen und Modelle werden nicht geboten, im Mittelpunkt stehen die miterlebten „Fälle", die ich als Beteiligter, als Vermittler oder als Beobachter erlebt habe.

Elternehrgeiz, Überforderung der Kinder, Angst vor Imageverlust

Mit diesen Schlagworten kann man die Phänomene beschreiben, die zunehmend in der Unter- und Mittelstufe (Jahrgangsstufen 5-10) auftreten. Das Recht der Eltern (in Hessen), die Schulform frei zu wählen, hat diese Art von Konflikten zwischen Schule und Elternhaus verstärkt. So werden in den letzten Jahren Kinder aufgenommen, die weder die Empfehlung der Grundschule noch vom Notenbild her die Eignung für ein Gymnasium haben. Das Abitur als Schulabschluss ist den Eltern über alles wichtig. Hier ist Konfliktstoff vorprogrammiert. Im Laufe der Zeit treten Probleme durch die zunehmende Leistungsschwäche der Kinder oder Verhaltensauffälligkeiten, oft eine Kombination von beidem zutage. In den Auseinandersetzungen mit den Eltern und in Gesprächen mit den betroffenen Kindern kristallisierten sich weitere Gründe heraus:

  • Das Renommee, der Ruf und das Image der Schule: Das Abitur dieser Schule hat nach Meinung einheimischer Eltern mehr Wert als das von anderen weiterführenden Schulen.
  • Die familiäre Nachfolgeregelung im Sinne einer Sicherung des Familienbestandes und -vermögens, d. h. das Kind soll in jedem Fall die Nachfolge der Firma oder den Beruf eines Elternteils übernehmen.

Bei Schwierigkeiten, in der Klasse mitzukommen, bei schlechten Noten und bei der Gefährdung der Versetzung wenden Eltern zum Teil sehr fragwürdige Methoden an (Atteste, Befreiung von Leistungsanforderungen, Einsatz von Rechtsanwälten), um zu ihrem Erfolg zu kommen. Zum Beispiel muss eine Schülerin aus der Klasse 9 zum Psychiater, wenn eine Arbeit schlechter als Note 4 ist, verlässt ein Schüler mit 18 Jahren (!) die Schule ohne Hauptschulabschluss oder legt eine Mutter ihr Kind im 5. Schuljahr fest: P. muss die Nachfolge des Familienbetriebes übernehmen. Leider gibt es Psychologen, die jegliche Art nicht erreichter Fertigkeiten oder fehlender Fähigkeiten eines Jugendlichen schon als „Leistungsdefizit-Syndrom" o. ä. attestieren. Mit diesen „Freischeinen" wird versucht, bei den betroffenen Kollegen und, falls dies nicht funktioniert, über das staatliche Schulamt den Verbleib des Kindes an der Schule zu erzwingen.

Glücklicherweise ist die Mehrzahl der Eltern bereit, zusammen mit den betroffenen Kindern, den Klassenlehrern, Fachlehrern und der Schulleitung angemessene Lösungen zu erarbeiten.

Gleichgültigkeit bei der schulischen Entwicklung des Kindes und Desinteresse an schulischen Veranstaltungen

Die Tendenz der Eltern, sich der Schule und der schulischen Entwicklung der eigenen Kinder gegenüber passiv zu verhalten, ist ein Sich-Entziehen aus der Verantwortung und ein anderes Potential für Konflikte. Für den betroffenen Lehrer äußert sich das darin, dass Eltern monatelang weder auf schriftliche noch auf telefonische Benachrichtigung reagieren, oder dass sie bei Veranstaltungen, die das Gemeinschaftsleben der Schule fördern sollen, nicht teilnehmen, sie teilweise sogar bewusst boykottieren.

Zu große Freiräume für die Kinder

Die Konflikte steigern sich, wenn Eltern ihren Kindern z. T. extreme Freiheiten einräumen, die eindeutig gegen das Jugendschutzgesetz verstoßen; so zum Beispiel, wenn 13jährige mit Erlaubnis ihrer Eltern rauchen oder 14jährige bis weit nach Mitternacht bei öffentlichen Disco-Parties anwesend sind. Die Beispiele ließen sich nach Belieben verlängern.

„Lehrer haben mir nichts zu sagen!"

Zu den oben genannten Verhaltensweisen von Eltern kommen häufig Schüleraussagen wie: „Sie haben mich nicht zu erziehen, Sie haben mir nur was beizubringen." Die Schwierigkeiten, in diesen Fällen mit pädagogischen Mitteln ein erträgliches Sozialverhalten zu vermitteln, bedürfen hier keiner weiteren Erläuterung.

Überengagierte Eltern

Ein vollkommen anderes, zu den beschriebenen sogar konträres Phänomen sind die „überbesorgten" und „überengagierten" Eltern, die sich nicht in den entsprechenden Gremien wie Elternbeirat oder Schulkonferenz einsetzen, sondern sich auf Grund ihres „Engagements", ihres Berufes, ihres Sozialstatus direkt in die aktuelle Tagesarbeit eines Lehrers mit z. T. repressiven Methoden „einbringen". Oft haben sie lediglich das Wohl ihres Zöglings im Auge.

„Kaputte Beziehungen in der Familie"

Das traurigste Kapitel dieser Negativliste liegt vor, wenn Kinder ohne Bezugsperson aufwachsen, wenn der Partner der Mutter von einem Tag auf den anderen verschwindet, wenn neue Lebenspartner massiv in das Leben der Kinder eindringen.

Ablehnung, Unterdrückung, das Gefühl des Verlorenseins und Orientierungslosigkeit sind nur wenige Schlagworte und die Spitze eines Eisberges, denen ein einzelner Pädagoge ohne Unterstützung seiner Kollegen, der Schulleitung, der Kollegen vom staatlichen Schulamt, den Vertretern der Kirche, der städtischen und Kreisinstitutionen sicher verzweifeln würde.

Manfred Deutschendorf