Auf dem Weg in eine andere Welt

Um sicher und selbstbewusst zu leben, brauchen Kinder Urvertrauen. Diese Zuversicht, dass ihr Leben trotz aller Unordnung und Ängste im Alltag lebenswert und sinnvoll ist, schenkt ihnen in besonderer Form die Taufe.

Ein überwältigendes Erlebnis

Kaum ein Geschehen ist so dicht und so persönlich wie eine Geburt. Selbst dann, wenn die werdenden Eltern die Schwangerschaft planten, alle Vorsorgeuntersuchungen mitmachten, die Geburtsklinik aussuchten und sich in Kursen auf die Geburt vorbereiteten, auch wenn die Geburt dann wie geplant und ohne Komplikationen verläuft, sozusagen wie aus dem Bilderbuch - selbst dann erleben Mütter und auch Väter ganz Außeralltägliches. Fast alle Mütter machen während der Geburt die Erfahrung, dass sie sich und ihr Kind anderen überlassen müssen, anderen Menschen, einer anderen Macht, die sie nicht in der Hand haben; sie können nur noch vertrauen können. Die Väter stehen ohnmächtig dabei und müssen aushalten, dass sie nichts tun können. Nichts - außer darauf zu vertrauen, dass alles gut wird. In der Geburt, das erleben Mütter und Väter in dieser Hilflosigkeit, liegen Tod und Leben so nahe beieinander wie nirgends sonst. Sie erleben dies im Wechselbad der Gefühle: Hoffnung und Zuversicht lassen atmen und gewähren Entspannung, Angst und Sorge lähmen und verkrampfen.

Wunder des Lebens

Wenn dann das Leben zum Durchbruch gekommen ist, der Schmerz ein Ende hat, die Qualen mit ihren unterschiedlichen Facetten von „Nichts tun können“ bis „Ausgeliefert sein“ vorbei sind, folgt der erste Augen-Blick, von dem viele Eltern sagen, dass sie ihn nie vergessen werden. Der Blick in die Augen des Kindes, ihres Kindes verweist in die Unendlichkeit: Wer bist du, mein Kind? Wo kommst du her? Was bringst du mit? Wo gehst du hin? In diese Fragen, die ganz schnell auch Fragen an uns selbst werden, mischen sich Gefühle von maßlosem Glück und von Dankbarkeit. Auch wenn sie „aufgeklärt“ sind und wissen, wie Leben entsteht: Wenn sie ihr neugeborenes Kind in den Armen halten, sprechen viele Eltern vom „Wunder des Lebens“. Wir wissen zwar nicht so genau, was ein Wunder eigentlich ist, doch gerade hier, im Zusammenhang einer Geburt, scheint es uns genau passend - alleine deshalb, weil wir im Alltag keine Wunder erleben. Was gibt es, das wir mit einer Geburt vergleichen könnten?

Alltagssprache versagt

Eine Geburt führt uns also im wahrsten Sinne mitten ins Leben und zugleich auch ganz an den Rand unseres Lebens. Wo Tod und Leben so eng beieinander liegen, wo die Unverfügbarkeit des Lebens so unmittelbar erfahren wird, wo wir bei allem Wissen doch nur staunen können, da versagt unsere Alltagssprache, und unser Alltagswissen lässt uns im Stich. Wir spüren, dass wir das Geheimnis des Lebens letztlich nicht erklären können; wir begegnen einer anderen Wirklichkeit, die nicht unser Alltag ist. Wenn wir sie zur Sprache bringen, dann greifen wir auf gewohnte Ausdrücke und Worte zurück, aber sie passen nicht so ganz. „Die Eltern sind dankbar für die glückliche Geburt“, heißt es zum Beispiel in vielen Geburtsanzeigen; jeder versteht diesen Satz, und doch ist er unvollständig - er sagt nicht, wem die Eltern dankbar sind. „Eltern übernehmen jetzt eine große Verantwortung“, sagen wir - aber wir lassen offen, vor wem die Verantwortung für das Kind übernommen wird.

Die Frage nach dem Sinn

Offensichtlich tut sich da im Hintergrund unseres Alltags oder in dessen entferntem Horizont eine andere Welt auf. Zwischen beiden Welten, der des Alltags und der anderen, die hier aufscheint, gibt es schon immer Übergänge und Berührungspunkte. Wo immer Menschen in Symbolen und Ritualen etwas vollziehen oder ausdrücken, machen sie sich auf den Weg aus dem Alltag zu dessen Horizont. Viele dieser Deutemuster und Symbole sind heute nicht mehr so eindeutig und so verbindlich wie früher, bis zur Generation unserer Eltern. Deren Kinder wurden fast „automatisch“ getauft. Der Horizont der Alltagswelt hieß damals selbstverständlich Gott. Heute hingegen ist der gemeinsame Nenner sehr klein; wir können gerade noch sagen, dass sich anlässlich der Erfahrung einer Geburt die Frage nach dem Sinn des Lebens überhaupt stellt. Doch die Antwortversuche gehen weit auseinander: Die einen sagen, dass eine Antwort auf die Sinnfrage gar nicht möglich ist, die anderen glauben die Antwort sogar ganz genau zu kennen. Dazwischen gibt es ein Vielzahl von Versuchen, die mehr oder weniger sicher klingen.

Was ist das Leben wirklich

Immerhin: Die Frage wird auch heute noch gestellt, das zeigen die vielen Rituale und Symbole rund um Schwangerschaft und Geburt. Während die kirchlichen Riten und Deutemuster allmählich in Vergessenheit geraten, werden andere dort neu entdeckt oder geschaffen: das Durchtrennen der Nabelschnur zum Beispiel, das jetzt immer häufiger die Väter und nicht Ärzte oder Hebammen vornehmen, das erste Waschen und Anziehen des Babys, das Pflanzen eines Baumes. In solchen Zeichen suchen Menschen etwas Außergewöhnliches zu verarbeiten, etwas, das sie im Innersten betrifft. Denn das, was mit der Geburt verbunden ist, versteht sich nicht von selbst. Wir spüren, dass wir nur die Außenseite, die medizinische Seite erklären können. Wir ahnen, dass es eine Innenseite gibt, ein Wissen darum, was das Leben wirklich ist. Doch diese Innenseite ist uns verborgen. Unsere Schulbildung, unser Alltagswissen helfen uns nicht weiter, oft auch nicht das im Religionsunterricht erlernte und in den Kirchen vermittelte Wissen.

„Alles wird wieder gut!“ – eine Lüge?

Wie wir uns dieser Innenseite nähern können, veranschaulicht der Religionssoziologe Peter Ludwig Berger an einem alltäglichen Vorgang aus der Lebenswelt: Eine Mutter (natürlich könnte hier auch „ein Vater“ stehen) tröstet ihr Kind, das nachts nach einem schlimmen Traum ängstlich aufwacht. Indem sie es tröstet, das Chaos seiner Gefühle und die Welt wieder ordnet, vermittelt sie ihm: Alles ist in Ordnung. Wahrscheinlich sagt sie das auch so oder so ähnlich: „Alles wird wieder gut!“ Was geschieht hier eigentlich, fragt Berger nun. Lügt diese Mutter nicht? Sie kann ihrem Kind doch gar nicht zusichern, dass „alles wieder gut wird“. Unsere Alltagserfahrungen zeigen doch, dass die Welt eben nicht in Ordnung ist, dass nicht alles gut wird, dass das Kind immer wieder damit rechnen muss, gestört zu werden. Und wenn es älter wird, nimmt es selbst wahr, wieviel Unordnung und Ungerechtigkeit auf der Welt herrschen. Wer den Trost der Mutter also wortwörtlich nimmt, kommt unvermeidlich zu dem Ergebnis: Sie lügt. Aber sie lügt aus Liebe - und deswegen lügt sie eben doch nicht.

„Alles wird wieder gut!“ – ein Glaubensbekenntnis!

Denn im Horizont dieser Liebe wird deutlich, dass ihr Trost gar nicht wörtlich verstanden werden darf. Der Mutter geht es nämlich nicht um die Alltagswelt, in der nicht alles gut ist und sein wird, sondern um jene andere Welt, die weit über den Alltag und das Wortwörtliche hinausreicht. Ihr „Alles wird wieder gut“ ist eine Formel, ein Glaubensbekenntnis, eine Aussage über den Sinn des Lebens; man kann sie übersetzen in: „Vertraue dem Leben. Dein Leben ist sinnvoll. Es wird gut und gelingen“.
Die Sicherheit, die die Mutter hier vermittelt, hat für Berger wie für viele andere Soziologen und Psychologen eine religiöse Dimension. Die Mutter verlässt und übersteigt die Alltagswirklichkeit, in der ihre Aussage „Alles wird wieder gut“ gar nicht stimmt; sie bezieht sich auf eine andere Wirklichkeit, auf eine Weltordnung, in der wirklich alles gut wird. An keiner Stelle redet sie von Religion und Kirche, noch weniger von Gott und Christus. Und doch legt sie den Grundstein für ein Ur- oder Grundvertrauen ihres Kindes, das letztlich religiös ist. Hinter dem „Alles wird gut, alles kommt in Ordnung“ steht eine Wertung: „Gut“ und „Ordnung“ verweisen auf eine Absicht, ein zielgerichtetes Handeln und Planen; die Welt hinter unserer Alltagswelt wird nicht dem Zufall überlassen.

Leben ist mehr

Kaum jemand wird bezweifeln, dass das, was die Mutter hier tut, berechtigt ist. Es ist „normal“; jeder wird sein Kind so trösten und jeder wird seinem Kind dieses Urvertrauen vermitteln wollen. Wir alle leben ja (hoffentlich) selbst aus diesem Urvertrauen heraus. Wir spüren, dass wir sicherer, selbstbewusster, gelassener sein können, wenn wir dieses Vertrauen reifen lassen konnten, wenn wir es immer wieder als berechtigt erlebten, wenn es nicht stets enttäuscht wurde. Indem wir dieses Urvertrauen zulassen und aus ihm heraus leben, sind wir religiöse Menschen.
Rational ist dieses Urvertrauen nicht zu begründen. Es ist eine Einstellung zum Leben, die aus der Alltagswelt und Alltagserfahrung nicht abgeleitet werden kann. Und doch ist es da. Gerade bei einer Geburt und Gefühlen wie Dankbarkeit oder Verantwortung, die sie in uns auslöst, wird uns deutlich: Leben im vollen Sinn des Wortes ist mehr als das, was uns in der Alltagswelt und mit Worten der Alltagssprache zugänglich ist.

Die Alltagswelt ist nicht alles

Nicht von ungefähr entwickelten sich in den verschiedenen Kulturen und Religionen um die Geburt Riten und Gebräuche. Die Erfahrungen, die wir bei der Geburt machen, wollen gedeutet und in unser Leben eingeordnet werden; wir suchen zu verstehen, was hier auf uns einbricht (oder in uns aufbricht).
Die christliche Tradition - die evangelische wie die katholische - lädt die Eltern in dieser Situation dazu ein, ihr Kind taufen zu lassen. In der Taufe wird deutlich und direkt ausgesprochen, was im Beispiel von Peter Berger die Mutter „zwischen den Zeilen“ sagt - dem Kind und den Eltern wird zugesichert: „Dein und euer Leben ist lebenswert und sinnvoll. Es kommt in Ordnung, es wird (alles) gut.“ Die Taufe wird zu einem bewusst gestalteten und ausgeschilderten Weg, der uns aus der Alltagswelt heraus hin zu ihrem Horizont führt, ein Weg, auf dem auch immer wieder Wegbegleiter bereit stehen: Pfarrer und Religionslehrerinnen, Jugendgruppen und -leiter, Taufpaten und Messdiener, überhaupt alle, die sich in den Kirchen engagieren. Den Eltern und ihrem Kind wird zugesichert und erfahrbar gemacht: Die Alltagswelt mit ihren Fragen und Zufälligkeiten, mit ihren Risiken und Möglichkeiten, mit ihren Bedrohungen und Glückserfahrungen ist nicht alles. An ihrem Rand, als ihr Horizont erscheint eine Welt, die verlässlicher ist, in der „alles gut ist“, und zwar auf Dauer.

Von Anfang an Hoffnung mitgeben

„Kann man das denn wirklich zusagen?“ Die Frage wird immer wieder gestellt. Genauso könnten wir aber jede Mutter und jeden Vater fragen, die ihre Kinder trösten mit Worten „Alles wird gut“, die ihrem Kind ein Urvertrauen wünschen und ermöglichen. Im Grunde ist die Taufe eine besondere Form, dem Kind dieses Urvertrauen zu schenken und ihm zu sagen: Wir wünschen für dich ein Leben in Fülle. Dazu gehört, dem Kind Zuwendung und Annahme zu schenken. Gerade das geschieht in der Taufe. Wir sichern dem Kind zu, dass es immer gewollt ist, dass es grundsätzlich und vor jeder Leistung wertvoll ist, dass es ein uneingeschränktes Recht auf ein gelingendes Leben hat. Dieses „Immer“ und „Grundsätzlich“ und „ohne Einschränkung“ können wir selbst dem Kind nicht garantieren. Die Erfahrungen des Alltags zeigen uns, dass wir naiv wären und oberflächlich, wenn wir so denken und handeln würden. Trotzdem sind diese Wünsche berechtigt und sinnvoll. In der Taufe stellen wir das Kind ausdrücklich unter den Segen Gottes, der größer und weiter ist als unser Alltag. In ihr wird das Kind Teil einer großen Gemeinschaft, die Gott als Gott des Lebens bekennt und deswegen dem Kind zusagen kann: „Dein Leben ist lebenswert und sinnvoll.“ So wird dem Kind von Anfang an eine Hoffnung mitgegeben. Eine Hoffnung auf eine Welt, in der wirklich alles gut ist.

Sich dem Sinnhorizont öffnen

Diese Welt soll nicht gegen unsere hier erfahrbare alltägliche ausgespielt werden. Taufe und Religion laden nicht zur Weltflucht ein, im Gegenteil: Sie fordern auf, diese Welt bewohnbar zu machen, sich in ihr zu engagieren, in ihr viele Erfahrungen des Glücks und des Gelingens zu sammeln. Wenn wir Taufe so verstehen, wird deutlich, dass sie ein sinnvolles Geschehen ist. In ihr wird verdichtet, was die Eltern immer schon für ihr Kind wollen. Das gelingt vor allem dann, wenn sie selbst sich immer wieder dem Sinnhorizont öffnen, der in der Taufe erschlossen wird, wenn sie selbst ihre Hoffnungen und ihr Vertrauen, ihre Sicherheit und ihren Selbstwert nicht abhängig machen von alltäglichen Ereignissen und Verdiensten, sondern aus derselben Zusage leben, die sie ihrem Kind geben.

Die Frage, ob man mit der Taufe nicht besser wartet, bis das Kind selbst mündig ist und entscheiden kann, ist damit hinfällig. Es geht ja um eine Zusage und nicht um eine Leistung. Warum sollten wir damit warten, dem Kind zu sagen und zu wünschen, dass sein Leben gelingen möge, ganz und gar, jenseits allen alltäglichen Scheiterns und Misslingens - einfach weil im Wunder der Geburt das Leben selbst zur Sprache kommt? Die Taufe deutet dies und benennt es so. Mehr nicht. Weniger auch nicht.

Herbert Haber