Der normale Umgang holpert

Der Kinderarzt Dr. Herbert Renz-Polster über die Bedürfnisse von Eltern und Kindern und die Schwierigkeit, sie gegen die gängigen Lebens- und Erziehungsmodelle zu behaupten.

Im Untertitel Ihres Buchs „Menschenkinder“ plädieren Sie für eine „artgerechte“ Erziehung. Dieses Wort provoziert Bilder von Legehennenbatterien und ähnlichen Formen der Tierhaltung, die jedes natürliche Bedürfnis der Tiere ignoriert. Wachsen Kinder heutzutage wirklich unter so miserablen Bedingungen auf?

Klar, der Untertitel zielt genau auf dieses Bild der Lege- hennenbatterien. Ich will damit nicht sagen, dass unsere Kinder wie die Legehennen vor sich hinvegetieren. Aber ich finde, dass wir auch bei der Erziehung nach den na- türlichen Bedürfnissen der Kinder fragen müssen. Wenn sie geboren werden, sind sie ja keine unbeschriebenen Blätter, auf die wir schreiben könnten, was uns beliebt. Sie tragen vielmehr Prägungen aus der Vergangenheit in  sich,  biologische  Voreinstellungen  gewissermaßen, die sich in der Menschheitsgeschichte entwickelt und als Stärken erwiesen haben. Diese Voreinstellungen sollten wir kennen und wissen, dass wir eben nicht beliebige Er- ziehungsziele formulieren und die Kinder dann munter darauf zutreiben können. So wie die Legehennen haben auch Kinder bestimmte Erwartungen an ihr Aufwach- sen, die wir berücksichtigen müssen.

Als da wären?

Da ist zum einen emotionale Sicherheit. Die entsteht zunächst in der frühen Kindheit durch die Erfahrung von verlässlichen, feinfühligen und authentischen Beziehungen bei den alltäglichen Bezugspersonen, in der Familie. Ohne eine solche Rückversicherung können die Kinder nicht wirklich aktiv auf die Umwelt zugehen; sie ist die Grundlage ihres Lernens.

… was heute auch niemand ernsthaft in Zweifel zieht!

Moment! Es stimmt zwar: Vordergründig betonen alle die Bedeutung verlässlicher Beziehungen zu den Eltern und anderen Bezugspersonen. Aber hinten rum wird dann so viel behauptet und Angst verbreitet … Dass die Kleinen zum Beispiel durch zu viel Nähe verwöhnt würden, dass sie das Schlafen möglichst früh alleine packen müssten – solche von „Experten“ weit verbreiteten Vorstellungen verunsichern viele junge Eltern und belasten die Bezie- hungen zu ihren Kindern von Anfang an. Dabei ist das aus Sicht der evolutionären Verhaltensforschung alles nur Geschwätz. Unsere Kinder stammen aus einer Welt, in der sie viel Nähe bekommen mussten, ganz einfach weil sie anders nicht überlebt hätten. Sie wurden lange gestillt, sie wurden viel getragen, sie schliefen bei ihrer Mutter. Das war zu 99 Prozent der menschlichen Geschichte das Ticket, um überhaupt den nächsten Tag zu erleben.

Manche würden jetzt sagen: Aha, der richtige Platz für Kinder ist also doch die Mutter und nicht die Kita!

Dagegen steht das zweite große Bedürfnis von Kindern, das ab dem dritten Lebensjahr immer mächtiger wird: ihre Kindheit zu einem gewissen Maß selbst zu organisieren, damit sie wichtige Erfahrungsräume ansteuern können. Viele fundamentale Lebenskompetenzen können Kinder nur selbst aufbauen; niemand kann einem Kind soziale Kompetenz „beibringen“, niemand kann ihm innere Stärke anerziehen. Das sind Erfahrungs- schätze, die Kinder im Alltag heben müssen – und dazu brauchen sie auch den Austausch unter Ihresgleichen, also das selbst organisierte Spiel. Da lernen sie mit ihren Emotionen umzugehen, ihre Ängste zu zähmen und sich zu bewähren. Kein Wunder, dass es sie zum selbst organisierten Spiel geradezu magnetisch zieht.

Und dagegen verstoßen die Bedingungen, unter denen Kinder heute aufwachsen?

Zum Teil schon. So ist die informelle Spielkultur, die eigentlich immer die Kindheit geprägt hat, stark zurückgedrängt, oft zugunsten „pädagogischer“ Angebote. Die unstrukturierten Spielgruppen und Banden gibt es ja kaum mehr. Aber in diesen Gruppen ist immer ganz viel gelaufen. Es ist ja nicht so, dass die Kinder in den 1960er oder 1970er Jahren, als es keine Frühpädagogik und nur kurze Schulzeiten gab, verwahrlost aufgewachsen wären. Da war viel Selbstorganisation in der Kindheit, und vieles spricht dafür, dass das ein Plus war. Kinder können nun einmal nicht alles von Erwachsenen lernen, manches müssen sie untereinander erfahren und aufbauen – gerade Dinge, die sie für die ungewisse Zukunft schon immer gut gebrauchen konnten: ein inneres Rückgrat (das heute gerne als „Resilienz“ bezeichnet wird), Selbstkontrolle und selbstständiges Handeln etwa.

Fehlt es Kindern heute daran? Ist es nicht im Gegenteil so, dass sie mit den modernen Lebensbedingungen ganz gut zurechtkommen?

Es ist immer schwer, etwas über „die Kinder“ zu sagen. Viele wachsen in der Tat mit tollen Ressourcen auf, und es ist bestimmt nicht so, dass früher alles besser war. Insgesamt haben wir im Umgang mit Kindern viel Land gewonnen, gerade seit wir uns als Gesellschaft lösen konnten von den autoritären Grundmustern der frühen Industriegesellschaft. In den Beziehungen herrscht ein offenerer, wertschätzenderer Umgang, auch unter den Erwachsenen. Aber das heißt nicht, dass alles wunderbar ist. Manche Kinder leben in prekären Verhältnissen, und die nehmen mit der wirtschaftlichen Beschleunigung, die wir gerade erleben, noch zu. Und diese Lebensverhältnisse sind ja nicht nur durch materielle Armut geprägt, sondern vor allem durch eine verarmte Beziehungsmatrix, höhere Stresspegel und damit auch gesundheitliche Probleme wie Übergewicht, Suchtprobleme sowie Lern- und Verhaltensstörungen.

Die Hauptprobleme heißen also „Armut“ und „Bildungsferne“. Oder umgekehrt: Bildung gut, alles gut?

Jein. Auch die Mittelschicht ist jetzt im Zuge der regelrecht entfesselten Globalisierung dabei, mit ihren Kindern in ein Erziehungsmodell einzusteigen, das mir Sorge macht. Es geht immer mehr um Funktionalität, geleitete Pädagogik, kognitive Förderung – sprich: „Leistung“. Da wird die Kindheit zu einem von den Eltern veranstalteten Projekt. Da geht es darum, dass die Kinder fit werden für den globalen Wettkampf. Aber für die Kinder – und auch für uns Erwachsene – geht diese Rechnung nicht auf. Denn diese Art der Verzweckung beschädigt die wichtigste Basis der Entwicklung: die Beziehungen. Da braucht es Zeit, Austausch, Freiheit und positive Stimmung, Wertschätzung aufgrund von Persönlich-Menschlichem – also das, um was es im Leben eigentlich geht. Wenn wir jetzt die Erziehung und Bildung immer mehr auf das wirtschaftlich Verwertbare ausrichten, geben wir im Grunde die Beziehungsdividende preis, die wir seit dem Ende der autoritären Erziehungspraxis eingefahren haben.

Sehen Sie Symptome dafür?

Ich sehe gerade in den gut versorgten Familien viele Kinder, die ängstlicher geworden sind, sich mit Beziehungen schwerer tun und den Narzissmus des Kindes- alters nicht so leicht hinter sich lassen. Statt in gemischtaltrigen Gruppen wechselnde Rollen zu durchleben – Ältere und Jüngere, Anführer und „Lehrlinge“ – sind sie heute eher auf eine sehr individualistische Selbsterfüllung in einem von Erwachsenen klar strukturierten Rahmen festgelegt. Und auch in den jungen Familien gibt’s immer mehr Stress, weil man so ungeheuer viele Ziele hat für die Kleinen; die sollen schnell selbstständig werden, alleine einschlafen, früh sprechen und so weiter. Aber der ganz normale emotionale Umgang holpert, und immer mehr Helfer müssen zu Rate gezogen werden …

Ist das denn so schlimm? Brauchen Eltern nicht genauso ein Netz von Helfern, so wie ihre Kinder ein Netz von anderen Kindern brauchen? Das „Dorf“, von dem in einem viel zitierten afrikanischen Sprichwort die Rede ist?

Ja, das brauchen sie in der Tat, ohne das sind sie regelrecht aufgeschmissen. Ein solches Netz liefert im Idealfall zwei Dinge: zum einen Rückhalt durch Beziehungen, zum andern helfende Hände. Da waren früher eine Großmutter mit dabei, die Nachbarn, die Tante und so weiter, die im Alltag mit anpackten. Das kann unsere heutige Expertenkultur nicht bieten. Und weil sich diese Experten außerdem in vielen Dingen widersprechen, wird oft die Unsicherheit nicht wirklich kleiner.

Aber selbst wenn ich das als Mutter oder als Vater einsehe: Ich kann die Uhr nun einmal nicht um 50 Jahre zurückdrehen …

Nein, jeder kann nur dort anfangen, wo er steht. Aber er muss anfangen – wenn er oder sie das will. Und das beginnt zwischen den Ohren: Was will ich denn im Leben? Was will ich von meinen Kindern? Verliere ich vor lauter Zielen nicht den Weg aus den Augen? Es ist ja nicht so, dass es nicht auch andere Vorstellungen gäbe als dieses Rattenrennen, das wir da veranstalten, auch in der Erziehung. Die Bilder und die Vorstellungen von einem achtsamen, beziehungsvollen Umgang mit Kindern wer- den ja nicht unter dem Ladentisch gehandelt. Man kann sich im Leben immer wieder neu inspirieren lassen, das ist ja das Wunderbare.

Bleibt nur die Frage: Wo finde ich den Anstoß dazu? Und wie kann ich mir so ein Dorf bauen, wenn Ausbildung und Beruf mich mit meinen Kindern „jottwehdeh“ irgendwohin verschlagen haben?

Jottwehdeh gilt dasselbe wie in der Großstadt: Man ist unter Menschen mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen davon, was gut ist für die Kleinen. Die einen fragen die Erzieherin als erstes nach dem Englischkurs, die andern, ob die Kinder denn auch viel raus kommen. Die einen wollen einen Waldkindergarten, die anderen ein „Haus der kleinen Forscher“. Es ist unsere Wahl, in welche dieser Erziehungskulturen wir uns einklinken. So ist es auch bei Konsum, Transport und Gemeinschafts- leben:  Discounter  oder  Hofladen?  Mit  dem  Fahrrad zur Kita oder mit dem Auto? Kindergeburtstag mit den Kindern gestalten oder von der Stange? Klar kann nicht jeder sich das immer frei aussuchen, aber auch wer kleine Schritte tut, kommt zu neuen Begegnungen.

Das Gespräch führte Josef Pütz