Als Eltern unserer Enkelin
Nach langen Kämpfen mit ihrer Adoptivtochter freuten sich Franziska Scheckenhofer und ihr Mann, dass sie endlich Oma und Opa sein durften. Aber plötzlich mussten sie wieder Eltern sein.
Von unserem Enkelkind Selina erfuhren wir erst, als sie schon ein Kleinkind war. Unsere Adoptivtochter Anja war mit 18 ausgezogen und hatte seitdem jeden Kontakt konsequent verweigert. So bekamen wir ihre weitere Entwicklung nur aus der Ferne mit. Dass sie als Kellnerin jobbte, ihre wechselnden Männerbeziehungen, Selinas Geburt. Vorübergehend musste unsere Enkelin bei einer Pflegefamilie leben, weil das Jugendamt ihre Betreuung nicht gewährleistet sah. Bis Anja sich gemeinsam mit ihrem Freund Tom das Recht erstritt, Selina wieder zu sich zu holen. Doch dann, als Selina sechs Jahre alt war, brach ihre kleine Welt zusammen: Weil Tom verreist war, durfte sie bei ihrer Mutter im Doppelbett schlafen; als sie am nächsten Morgen aufwachte, lag Anja tot neben ihr. Lungenembolie, stellte der Notarzt fest.
Enkelin Selina zu besuch
Zu dieser Zeit hatten wir wieder Kontakt zu Anja gefunden, nicht eng, eher distanziert, aber immerhin. Wir waren froh darüber. Selina besuchte uns regelmäßig an Wochenenden, wenn Anja arbeiten musste, und oft auch in den Ferien. Sie war gerne bei uns, genoss vor allem unseren großen Garten, den es in Anjas kleiner Etagenwohnung nicht gab. Mein Mann und ich brachten ihr das Radfahren und Schwimmen bei, wir machten Ausflüge und Radtouren – eben all das, was Oma und Opa mit ihren Enkeln tun.
Eine neue Rolle
Doch jetzt plötzlich fanden wir uns in einer neuen Rolle wieder: Die Kinderjahre begannen für uns als älteres Paar noch einmal von vorne. Nach anfänglichem Widerstand des Jugendamts – wegen unseres Alters und unserer Vorgeschichte mit Anja, die natürlich aktenkundig war – wurde uns das Sorgerecht für Selina zugesprochen. Die Leichtigkeit der Großelternrolle fiel von uns ab; jetzt waren wir für sie nicht mehr diejenigen, mit denen sie Eisessen, Ausflüge und Schwimmbadbesuche verband. Stattdessen hörte sie von uns: Mach’ deine Hausaufgaben! Räum’ dein Zimmer endlich auf! Nein, das gibt es jetzt nicht! Wir mussten Grenzen setzen, Verbote aussprechen, Konsequenzen durchziehen. Plötzlich waren wir ungewollt wieder Eltern. Sie lief weg, sie log – déjà vu!
Enttäuschung und Wut
Die ersten Tage nach Anjas Tod erlebte ich wie einen Film. Während sich äußerlich die bislang halbwegs geordnete Welt in einen chaotischen Scherbenhaufen verwandelte und innerlich die Gefühle ineinander verknäuelten, erschien mir gleichzeitig alles, was geschah, als irreal, als sähe ich mir selbst dabei zu. Ich fuhr sofort zu Selina – sie hatte selbst die Familie, die einen Stock höher wohnte, über Anjas Tod informiert – und blieb bei ihr; wie ich dorthin kam, weiß ich nicht mehr. Aber ein Bild von diesem Tag hat sich mir tief ins Gedächtnis gebrannt: Irgendwann musste ich raus aus dieser engen Wohnung und machte mit Selina einen Spaziergang. Unterwegs sammelte sie Kastanien und pfefferte sie dann in einem Moment voller Wut gegen einen Baum: „Ich hab’ doch immer Pech! Zuerst komme ich in eine blöde Pflegefamilie, und jetzt ist die Mama tot.“ Das Bild dieses kleinen Mädchens zerreißt mir noch heute das Herz.
Die Geschichte von Anja wiederholte sich
Acht Tage später war Anjas Beerdigung. Selina hielt die Zeremonie nicht aus. Sie riss aus, und erst nach ein paar Stunden fanden wir sie in einem alten Steinbruch in der Nähe wieder.
Mit Selina holte uns die vergangen geglaubte Geschichte mit Anja wieder ein. Das Verhältnis zu unserer Tochter war trotz allen Bemühens im Laufe von Anjas Pubertät immer belasteter geworden. Sie wurde mehr und mehr ein „schwieriges Kind“. Sie log, klaute, riss aus; mehr als
einmal stand die Polizei vor unserer Haustür und brachte sie zurück. Natürlich gab es dafür viele Gründe. Ganz sicher haben auch mein Mann und ich bei Anja nicht alles „richtig“ gemacht, aber es gab wohl noch einen tieferen Grund für ihr Verhalten: Wie viele adoptierte Kinder war auch Anja verbittert und verzweifelt darüber, dass sie ihre leiblichen Eltern nicht kannte. Auch mein Mann und ich hatten sie nie kennengelernt – was Anja uns dann als Jugendliche vorwarf: Wir hätten uns um ihretwillen mehr bemühen müssen, ihre „richtigen“ Eltern ausfindig zu machen. Anja wollte wissen, wer sie war, warum sie die war, die sie war. Sie versuchte selbst immer wieder, ihre Eltern zu finden – erfolglos. Wir spürten, wie sehr diese Kränkung und die Wut darüber ihr zusetzten. Bis zu dem Punkt, dass sie ging, für lange Jahre untertauchte und Mutter wurde, ohne dass wir davon wussten.
Und jetzt Selina. Wenn sie einen plötzlichen Wutausbruch hatte, scheinbar grundlos die beleidigte Leberwurst spielte oder bockte, ähnelte sie Anja sehr. Als Großeltern hatten wir das relativ locker und entspannt weggesteckt, wir waren ja nicht die Eltern! Aber jetzt … Selina lief weg, sie log – déjà vu! Ja, weil sie Anja so verflixt ähnlich war in ihrem Verhalten, musste ich manchmal aufpassen, dass ich sie beim richtigen Namen rief und nicht „Anja“!
Die Unterstützung eines Psychologens
Auch Selina selbst kam mit unserer neuen Rolle nicht klar. Sie war enttäuscht von uns, wollte ihre alte Oma, ihren alten Opa wiederhaben. Ständig gab es Streit um Kleinigkeiten, Alltagshickhack vermischte sich mit unserer Trauer. Mit der Zeit wurde die Situation für uns alle unerträglich. Schon mit elf Jahren wollte Selina weg von uns, auf ein Internat. Wir willigten ein und sie ging nach München. Allerdings wurde sie dort derart verhaltensauffällig, dass sie nach zwei Jahren abgehen musste und wieder bei uns lebte.
Ich wusste mir keinen Rat, wie es nun weitergehen sollte. Eine Freundin machte mir Mut, Hilfe von außen zu holen. In Gesprächen mit Psychologen fanden wir zusammen mit Selina schließlich eine Lösung – eine psychologisch begleitete Wohngruppe der Caritas nicht weit von unserem Zuhause. Selina lockte dabei wohl der Umstand, mit Gleichaltrigen leben und zu uns Abstand halten zu können, so dass sie einwilligte.
Wir bekommen viel Liebe zurück
Das Leben dort tat ihr nach unserem Eindruck sehr gut. Sie fand eine Psychologin, der sie sich anvertrauen konnte und die ihre Entwicklung nachhaltig positiv beeinflusste. Unser Verhältnis besserte sich zusehends, unsere Gespräche wurden wieder offener. Selina konnte die Schule abschließen und arbeitet heute in einer Bank, ist zuverlässig und beständig, führt ein eigenes, ganz normales Leben. Und wir dürfen nun nach all den Jahren der Dauerkrise erleben, dass wir jetzt von Selina viel Liebe und Zuneigung zurückbekommen. Wir sehen uns ab und zu und können gut über Vergangenes reden. Das tut gut!
Nur ein Punkt macht mich richtig traurig: Selina kann und will nicht um ihre Mutter trauern. Sie ist wütend auf Anjas frühen Tod. Sie weigert sich, Anjas Grab auf dem Friedhof zu besuchen.