Meine Lebensschule

Die alltäglichen Familien-Ereignisse mit seiner Frau und vier Kindern sind für Burkhard Knipping Lehrstücke des Lebens: Was ist Leben? Wer sind wir? Woraus leben wir? Deshalb erlebt er auch als Erwachsener seine Familie als Bildungshaus.

Bis zur Geburt meiner Kinder erschien mir das ganz selbstverständlich: „Alles ist irgendwie machbar und lösbar“ – dank meines Know-hows, technischer Mittel, Absprachen und / oder Mittun von anderen. So hatte sich mir das Leben bisher gezeigt. Doch diese Zuversicht, vielleicht war es ja auch eher Überheblichkeit, wurde mir durch unsere Kinder –Gott sei Dank– genommen, und ich konnte etwas scheinbar Selbstverständliches neu entdecken: das Leben.

Lehrstück Nr. 1: Die Entdeckung des Lebens

Der Entbindungstermin war da, zu Hause alles Nötige vorbereitet, im Krankenhaus standen Hebamme und Arzt bereit. Doch das Kind wollte nicht raus aus dem Bauch der Mutter. Natürlich wusste ich, dass so etwas vorkommt und normal ist. Aber jetzt musste ich warten und warten und bekam es zu spüren: Es gibt Ereignisse, die mein Planen und Organisieren ins Leere laufen lassen und mich quasi lahmlegen. Und noch tiefer spürte ich: Geschehnisse wie eine Geburt oder das Sterben vollziehen sich nach ihren eigenen Kräften; sie haben mich in der Hand und nicht ich sie. Gerade deshalb verweisen mich diese Ereignisse darauf, dass über, hinter und in meinem Leben eine ganz andere Kraft aktiv wirkt: Gottes Kraft. Dass das Christentum das Leben und die Lebewesen als Geschenk aus Gottes Hand versteht, ist mir seitdem vertrauter geworden.

Die nächste ergreifende Erfahrung für mich war, dass die Geburt die Kräfte meiner Frau völlig aufzehrte. Es ging plötzlich auch um ihr Leben, und ich erlebte erstmals, wie nah Geburt und Tod zusammenliegen. Das eine Leben kam, und mit seinem Kommen bedrängte es das andere Leben. (Vielleicht kehrt das Christentum den Tod ja gerade aufgrund derart bitterer Lebenserfahrungen zur Geburt um – als Hoffnungsschrei und Gegenruf.) Damals begann ich mich zu fragen: Ist diese Rivalität zwischen den Lebewesen naturgegeben und unvermeidlich? Leben bedeutet wohl immer, ein Stück weit auf Kosten oder zu Lasten von anderen zu leben – wie ließe sich dieser Umstand mildern? Die Antwort suchte und fand ich bei Jesus: Er löst die Rivalität durch eine lebens- und menschenbezogene Botschaft – seinen Dienst am Nächsten und seine Feindesliebe.

Das Gegeneinander von Geburt und Leben einerseits und Tod andererseits erlebte ich bei der Geburt unseres dritten Kinds noch einmal. Das Neugeborene konnte nicht regelmäßig atmen, schlitterte hin und her zwischen Leben und Sterben. Und ich stand als Vater hilflos heulend neben dem Inkubator … Wieder musste ich erfahren, dass das eigene Wollen und Können und sogar die Kompetenz der Fachleute und die medizinische Technik an ihre Grenzen kommen, wenn es um das Leben selbst, die Geburt oder das Sterben geht. Dieses Gegeneinander von Tod und Leben lässt mich umso tiefer spüren, wie unverzichtbar und unschätzbar wertvoll das Leben ist. Und ich finde es völlig plausibel, dass das Christentum den Tod zur Nagelprobe des Glaubens erklärt: Hat der Schöpfer des Lebens auch Macht über den Tod?

Lehrstück Nr. 2: Ich werde „Ich“ durch Dich

Wie viele andere Eltern betrachte ich die Geburten unserer Kinder als die bedeutendsten Ereignisse in meinem Leben. Sie wurden für mich ein Schlüssel für meine Lebensrolle und für meine Sicht auf das Miteinander im Leben.

Überwältigt von den Geburtsereignissen fand ich einen Kernsatz für meine Vater-Rolle: „Ich gebe durch meine Vaterschaft dem Leben eine neue Gestalt.“ Das gilt nicht nur für den Geburtsmoment, sondern auch für jeden Tag; denn alltäglich begleite, erziehe und präge ich die Kinder und helfe ihnen, eine Person, ein „Ich“ zu werden und die „Gestalt“ ihres Lebens zu finden und zu entwickeln. Letztendlich leben sie aufgrund der Bemühungen ihrer Eltern, aber umgekehrt geben auch sie uns eine neue Identität, eine Rolle und weiten unsere Ehe. Weil das Leben durch unsere Kinder an Gestalt, Vielfalt, Farbe und Lebendigkeit gewinnt, empfinde ich meine Vaterschaft wie eine Teilnahme am Schöpfungsgeschehen.

Rund vier Jahrzehnte lang hatte ich einen Vor- und Nachnamen. Aber dann verlieh mir – nicht wegen meiner Leistungen oder Verdienste – ein winziges Neugeborenes einen Titel: „Papa, Vater“. Ausdrücklich nennen mich zwar nur meine Kinder so, aber auch alle anderen in meiner Umgebung und sogar die gesamte Gesellschaft erkennen diesen Titel an. Ich lernte durch diese Auszeichnung zweierlei: Wirklich wichtige Positionen gewinne ich durch Beziehungen zu anderen Menschen: als Vater, Eltern, Geliebte(r), Freund(in) … – immer ist es der andere, der mir eine unwiderrufliche Bedeutung zuspricht. Und: Für das Leben bedeutsame Bezeichnungen vergeben nicht die Stärksten und Größten in unserer Gesellschaft, sondern gerade die Kleinsten. Dazu passt die Bedeutung, die das Christentum dem „Nächsten“ und damit oft auch dem „Schwächsten“ und „Geringsten“ und sogar dem „Feind“ zuspricht: Vom anderen kommt mir zu, wer ich bin, weil ich für ihn da bin oder mich für ihn einsetze.

Natürlich habe ich mich auch vor der Geburt meiner Kinder als Erwachsenen bezeichnet und verstanden. Aber bis heute stelle ich fest, dass sie mich immer noch in einem fortwährenden Bildungsprozess zu einer neuen Reife führen.

Lehrstück Nr. 3: Im Dienst der anderen

Durch das Vater- und Eltern-Sein lernte ich, lernten wir im Vergleich zum vertrauten Berufsleben eine neue Art von Aufgabe kennen. Von meinen Kindern werde ich rund um die Uhr gefordert, ohne Feierabend und vor allem auch ohne die Möglichkeit, mich innerlich zu distanzieren. Immer geht es dabei, anders als „im Job“, um die Kern-Bedürfnisse der Person und des Lebens – um Anwesenheit und Nähe, um Ernährung und Pflege, um Fürsorge und Wachsen. Und oft genug erscheint uns unser Rund-um-die-Uhr-Einsatz hinterher irgendwie erfolglos; ich denke da nur an meine unzählbaren Bitten und Mahnungen zum Aufräumen, Hausaufgabenmachen … und so weiter und so weiter.

Die Aufgaben, die unsere Kinder uns stellen, sind eben kein „Job“ und nicht auf Einkommen und Karriere ausgerichtet. Sie sind ein Dienst, der sich dem Leben selbst und dem Leben anderer widmet, die er in ihrer Bedürftigkeit und Hilflosigkeit annimmt. Diese andere Art zu handeln habe ich in unserem Familien-Bildungshaus nachdrücklich kennengelernt – und weiß seitdem umso besser, warum das Christentum gern von der Vater- und Mutterschaft Gottes spricht: Wir Menschen sind auf Hilfe beim Lebenserhalt angewiesen, und Gott ist unsere alles umgreifende Unterstützung.

Überraschenderweise merke ich, dass trotz mancher Genervtheit und Ermüdung jeder neue „Papa“-Ruf der Kinder wie auch jeder neue Tag immer genug Kraft weckt für eine gute Reaktion und alle familiären Tagesaufgaben. Dass meine Kinder mich, uns tagtäglich in Anspruch nehmen und unseren Dienst einfordern, ist wohl so unvermeidlich wie unverzichtbar für das Leben miteinander. Zuversicht für diese Ansprüche an die menschliche Bindungsfähigkeit schöpfe ich auch aus biblischen Glaubensworten wie „Bund“, „Liebe“ oder „Barmherzigkeit“: Gott begegnet uns so, wie wir Menschen es bedürfen und dass wir uns zu anderen und ihm gut verhalten können.

So entwickelten sich die Geburt und ersten Lebensjahre unserer Kinder für mich zu einer intensiven Reflexions- und Lernphase. Meine Denkweisen, meine Lebensanschauung und mein Glaube haben dabei einige „Umbauten“ erfahren. Und bis heute ist unser Familienleben eine ununterbrochene Lebensschule geblieben; täglich ringen wir um das richtige Leben und darum, wie wir zu leben lernen können.