Ebbe und Flut – Nähe und Distanz
Beziehungen sind lebendig - und wie alles Lebendige wachsen und verändern sie sich. Dabei durchlaufen sie einige Phasen, die sich bei vielen Paaren gleichen.
Die Verliebtheits- oder Symbiosephase.
In vielem erinnert sie an frühe Kindheitserfahrungen. Verliebte empfinden eine intensive seelische Nähe zum anderen. Sie haben den Eindruck, sie könnten die Gedanken des Geliebten lesen. Permanent suchen sie seine körperliche Nähe, seine Schwächen und Fehler sehen sie nicht.
Diese Blindheit und die Anziehungskraft, der man schier hilflos ausgeliefert ist, sind notwendige Bedingungen, um sich einerseits von der Herkunftsfamilie abzulösen - und andererseits sich an einen Partner eines anderen Geschlechts, mit einer anderen Geschichte, anderen Gefühlen und Werten anzupassen. Diese sehr schöne, aber auch sehr anstrengende Zeit kann zwischen sechs Wochen und sechs Monaten dauern – bei Paaren, die sich selten sehen, und bei Menschen, die eine besondere Begabung für die romantischen Seiten des Lebens haben, durchaus auch länger.
Der Sturz des Märchenprinzen
Aber auf jeden Rausch folgt ein Kater: Eines Morgens wacht man auf und merkt, der Partner ist gar kein Märchenprinz, die Partnerin ist keine Traumfrau – es handelt sich um ganz normale Menschen. Sie haben auch ganz normale Fehler und Schwächen. Und plötzlich zittern einem auch nicht mehr die Knie, wenn man ihn/sie sieht – manchmal geht er/sie einem sogar auf den Wecker. Diese Veränderung macht vielen Paaren Angst. Der Übergang von einer Phase in die andere wird oft als Krise erlebt, und in solchen Krisen kann man wachsen, aber auch scheitern.
Der Boden der Tatsachen oder die Konsolidierungsphase
Gegen den Kater der verschwundenen Hochgefühle hilft, einen gemeinsamen Alltag aufzubauen. Man lernt das Umfeld des Partners kennen, vereinbart verlässliche Treffpunkte und –zeiten. Rituale ersetzen immer neue Verabredungen. Freizeitbeschäftigungen, aber auch berufliche Pläne werden aufeinander abgestimmt. Und das ist gar nicht so leicht: Man lernt zwar neue Menschen mit interessanten Hobbys kennen, wenn man mit seinem Partner unterwegs ist. Aber man muss auch Etliches aufgeben, was bisher zum Leben dazu gehörte, und stattdessen Zeit mit seltsamen Leuten und bizarren Gewohnheiten verbringen. Noch schwieriger ist es manchmal, berufliche Perspektiven unter einen Hut zu bringen – denn die führen uns oft in unterschiedliche, manchmal weit entfernte Wohnorte. Auch hier ist die Gemeinsamkeit in der Regel nur um den Preis des Verzichtes zu bekommen. Und im Gegensatz zur Verliebtheitsphase fällt dieser Verzicht inzwischen gar nicht mehr so leicht. Die Konsolidierungsphase ist in der Regel bei Paaren, die sich häufig sehen, nach zwei bis drei Jahren abgeschlossen.
Wunschlos unglücklich
An diese Zeit schließt sich oft eine Übergangsphase an, in der manche Partner unzufrieden werden, ohne richtig sagen zu können, warum. Der Grund ist ganz einfach: Jetzt müsste eigentlich etwas Neues kommen – nämlich eine neue Nähe, eine andere Intensität. Längere Phasen der Stagnation machen viele Menschen unzufrieden.
Die (Schein)- Lösung: Der Trauschein
Ein Ausweg aus dieser Stagnation scheint oft die Heirat zu sein. Früher war die Hochzeit der logische Abschluss der Konsolidierungsphase. Die Verliebtheitsphase war noch nicht lange vorbei, die Gefühle waren noch sehr innig, der Stolz, es geschafft zu haben, war noch neu und frisch. Das war wirklich eine „hohe Zeit“. Heute findet die Heirat oft sehr viel später statt – lange Ausbildungszeiten, der Wunsch, den mühsam erlernten Beruf auch eine Weile ausprobieren zu können, die Möglichkeit, auch „unverbindlich“ zusammenleben zu können, all das veranlasst Paare heute dazu, sehr viel später zu heiraten. Oft wird versucht, das fehlende Gefühl der Hochstimmung dann durch eine umso größere Prachtentfaltung zu ersetzen. Manchmal gelingt das: Wenn nach der Hochzeit sich der Alltag des Paares ändert, wenn es mehr Intimität, mehr Intensität, mehr Verbindlichkeit gibt, dann ist Heiraten eine Lösung. Wenn aber nach der Heirat alles so bleibt, wie es war – dann war die Heirat nur eine Scheinlösung, und die Krise verschärft sich bald wieder. Das Paar braucht eine echte Veränderung – und vor allem ein gemeinsames Projekt, das über es selbst hinausweist: Denn jenseits der Konsolidierungsphase genügen sich Paare nicht mehr selbst.
Die Familienphase
Der Klassiker, die „natürliche“ Lösung unter den gemeinsamen Projekten ist natürlich ein Kind. Die Geburt eines Kindes ist ein großes Glück – für viele Menschen ist es das intensivste und aufwühlendste Ereignis ihres Lebens. Für Paare ist ein Kind jedoch zugleich immer auch eine Krise. Eine Zweierbeziehung muss in eine Dreier-Beziehung umorganisiert werden: Alle alten Regeln und Sicherheiten gelten nicht mehr – jeder muss einen neuen Platz im System finden. Alles, was wir uns in der Konsolidierungsphase mühsam aufgebaut haben, ist vorbei - der Alltag des Paares ändert sich radikal: Windeln waschen wird zum zentralen Element der Freizeitgestaltung. Auch die emotionalen Beziehungen ändern sich: Die Frau erlebt oft eine neue symbiotische Beziehung mit ihrem Kind, in der für den Vater wenig Platz ist. Er rutscht von Platz eins auf der Wichtigkeitsskala auf Platz zehn, den er sich mit der Waschmaschine teilt. Sex wird zur überflüssigsten Nebensache der Welt – für die Mütter. Dafür bekommen sie in der Regel mehr Arbeit, als sie erledigen können. Das Ergebnis ist oft eine immense Überforderung und eine emotionale Achterbahnfahrt mit beglückenden Hochs und massiven Tiefs.
Um diese Achterbahnfahrt auch als Paar zu überstehen, müssen beide Partner einen Beitrag leisten, der viel Einsatz erfordert: Die Männer müssen echte Väter werden, und das bedeutet neben der Sicherung der materiellen Existenzgrundlage auch, eine intensive Beziehung zum Kind aufzubauen. Besonders hilfreich ist es dafür, bei der Geburt dabei zu sein und sich möglichst bald und intensiv mit dem Kind zu beschäftigen.
Die Mütter müssen das ermöglichen, und das ist nicht immer einfach: Das Kind loszulassen, es dem Vater zu überlassen, ist angesichts der engen Bindung, die durch die Geburt und die erste Zeit danach entsteht, nicht leicht. Beide Eltern zusammen müssen darauf achten, dass sie auch noch Zeit für sich als Paar ohne Kind haben – und das geht nicht ohne Babysitter! Insgesamt sind Familien in dieser Zeit extrem auf Hilfe von außen angewiesen – und fühlen sich trotzdem oft erschöpft und überfordert.
Die Familienphase ist im Vergleich zu den beiden vorangegangenen sehr lang. Sie dauert zwischen 15 und 25 Jahren – und in der Regel unterscheidet sich der erste, sehr anstrengende Teil dieser Phase sehr deutlich vom zweiten, viel entspannteren.
Nach der Geburt eines Kindes bleibt in der Regel einer der beiden Partner (in über 90 % der Fälle ist das die Frau) zu Hause, während der andere weiter arbeiten geht. Während für den einen in der Arbeitswelt weiterhin Konkurrenz und Durchsetzungsvermögen das Leben bestimmen, gelten für den anderen jetzt andere Werte: Einfühlungsvermögen, Harmonie, Ausgleich sind in der Familienwelt gefragt. Diese unterschiedlichen Lebenswelten führen oft zu Unverständnis und Anpassungsschwierigkeiten. Neben der starken Belastung durch die Vielzahl der Aufgaben und den Mangel an Erholungsphasen belasten die Konflikte, die daraus resultieren, viele Paare. Oft fühlen sich beide Partner vom anderen vernachlässigt, eine gewisse Entfremdung setzt ein, Groll sammelt sich an.
Zur gleichen Zeit erleben viele Paare beglückende Erlebnisse mit ihren Kindern, und gemeinsam durchstandene Freuden und Leiden binden sie aneinander.
Ruhigere und entspanntere Zeiten erleben viele Paare, wenn die Kinder in den Kindergarten und die Grundschule gehen – die Belastungen lassen spürbar nach.
Einige Turbulenzen gibt es in der Regel, wenn der zu Hause gebliebene Partner beginnt, sich wieder stärker beruflich zu engagieren. Überraschenderweise ist die (Teilzeit-)berufstätigkeit der Mütter oft insgesamt eine große Hilfe: Sie führt zwar vordergründig zu mehr Stress, erhöht aber das Selbstbewusstsein und die Zufriedenheit der Mütter und sorgt für eine Angleichung von Männer-(Arbeits-)Welt und Frauen-(Familien-)Welt und legt die Basis für ein besseres gegenseitiges Verständnis.
Während der gesamten Familienphase ist es wichtig, dass jeder der beiden Partner auch noch ein wenig Zeit für sich selbst hat – aber das Paar auch noch Zeit für sich als Paar hat. Abende und Wochenenden ohne Kinder, die Gelegenheiten für intensiven Austausch, aber auch für gemeinsame Aktivitäten bieten, helfen sehr.
Die Familienphase endet, wenn die Kinder sich in der Pubertät in oft heftigen Auseinandersetzungen aus der engen emotionalen Bindung an die Eltern lösen und sich stärker nach außen orientieren. Insgesamt ist diese Phase bemerkenswert stabil: Die gemeinsame Aufgabe, Kinder zu erziehen, bindet die Partner auch aneinander, Scheidungen sind weniger häufig, als man erwarten könnte.
Alternativen zur Familienphase
Immer mehr Paare können keine Kinder bekommen. Andere entscheiden sich aus den unterschiedlichsten Gründen dafür, jetzt noch keine oder niemals Kinder zu bekommen. Damit ihre Partnerschaft nicht stagniert, müssen sie sich eine gemeinsame Aufgabe suchen, die sie beide begeistert - und fordert. Das kann eine gemeinsame berufliche Aufgabe sein, aber auch ein gemeinsames soziales Engagement (Kirche, Politik, ....).
Die berühmt/berüchtigte Midlife-Crisis
Die Midlife-Crisis ist eine komplexe Angelegenheit. Sie beginnt für ein Paar oft damit, dass einer der beiden das Gefühl bekommt, er habe bisher etwas Entscheidendes versäumt. Und das ist natürlich nicht ganz unbegründet: Jeder hat für die Partnerschaft und die Kinder auf andere Dinge (berufliche Chancen, Reisen, Hobbys, vielleicht sogar andere mögliche Partnerschaften) verzichtet. Hinzu kommt, dass Männer zwischen 40 und 50 oft auf dem Höhepunkt ihrer beruflichen Karriere angelangt sind. Neue Herausforderungen gibt es jetzt kaum noch. Sie fühlen sich unausgefüllt und unbefriedigt. Frauen hingegen suchen nach der Familienphase oft nach einem neuen oder stärkeren beruflichen Engagement. Beide sind verstärkt damit konfrontiert, dass ihr Leben nicht mehr unendlich dauert: Was sie jetzt nicht tun, werden sie vielleicht nie erleben. Und beide spüren das Nachlassen ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit und Attraktivität, aber möglicherweise auch schon Veränderungen in ihrem sexuellen Begehren und Erleben. In aktuellen Konflikten wird häufig angehäufter Groll aus früheren Phasen mitverhandelt. Manche suchen in dieser schwierigen Situation nach neuen Bestätigungen außerhalb der Beziehung.
Eine intensive Auseinandersetzung innerhalb der Beziehung, jenseits oberflächlicher Schuldzuweisungen; die Anerkennung alter Verletzungen, aber auch von geleistetem Verzicht und eine Art Ausgleich dafür durch wohlwollende Unterstützung bei den jeweiligen Projekten ist für viele Paare die sinnvollere Alternative.
Neue Aufgaben
Auch für die Zeit nach der Familienphase braucht ein Paar eine gemeinsame Aufgabe. Diese zu finden ist nicht unbedingt einfach – schließlich ist man nicht mehr ganz so jung und energisch wie vor 15, 20 Jahren. Aber auch hier ist die gemeinsame Suche schon ein Teil der Lösung.
Nach der Konzentration auf die Familie ist jetzt oft eine Hinwendung zur weiteren Umgebung (Großfamilie, Freundeskreis, Gemeinde, Gesellschaft) hilfreich. Aber es entstehen auch neue Freiräume für Selbständigkeit und Autonomie des Einzelnen, in denen sich Kreativität und Genussfreude entfalten können. Beides kann die Partnerschaft bereichern.
Endliches Glück
Nach der Midlife-Crisis kann sich eine Innigkeit und eine Fülle einstellen, die viele Menschen sich schon nach der Symbiose-Phase erträumt haben. Die gemeinsam durchgestandenen Krisen und Höhepunkte schaffen Vertrauen und eine tiefe Liebe. Paare, die die Krise nicht verarbeitet, sondern einfach überlebt haben, leben stattdessen in endlosem Streit oder stummem Groll nebeneinander her.
Einige Paare werden in dieser Zeit jedoch mit einer unerwarteten Herausforderung konfrontiert: Die Versorgung pflegebedürftiger Elternteile kann eine immense Belastung für den/die Einzelnen und/oder für die Partnerschaft sein. Eine gewisse Erleichterung bringt lediglich die ausgewogene Verteilung der Pflegearbeit innerhalb der Geschwister und innerhalb des Paares.
Abschied von der Arbeitswelt
Die Pensionierung eines oder beider Partner bedeutet noch einmal eine tiefe Krise. Nicht nur der Alltag muss neu organisiert, acht Stunden sinnvoll gefüllt werden - der/die Pensionierte muss auch damit leben lernen, dass die Gesellschaft ihn nicht mehr zu brauchen scheint. Männer leiden unter diesem Gefühl oft sehr.
Neben dem Alltag – vor allem den Aufgaben im Haushalt - müssen auch die Rollen in der Partnerschaft neu ausgehandelt werden, ebenso wie die Aufgaben in der Großfamilie und die Zeit für Reisen und andere Freizeitgestaltungen. Für letzteres eröffnet sich aber eben auch endlich ein weiter Raum. Die gelungene Altersehe ist gekennzeichnet durch eine große Freiheit und die Befriedigung, die die Rückschau auf ein intensives und erlebnisreiches Leben gibt.
Aber sie ist auch geprägt durch eine intensive Auseinandersetzug mit Krankheit und Tod – dem eigenen wie dem vieler Freunde und Bekannten.
Witwenschaft – die Zeit der Frauen
Der Tod des geliebten Partners ist für die meisten Menschen der heftigste Schmerz, den sie in ihrem Leben erfahren müssen. Wegen ihrer deutlich längeren Lebenserwartung (ca. sieben Jahre) müssen Frauen eher damit rechnen, den Tod Ihres Partners zu erleben – und nach diesem tiefen Einschnitt einen längeren Zeitabschnitt ohne ihren Partner leben zu müssen. Einsamkeit ist für die meisten Menschen das größte Problem dieser Lebensphase. Offenheit für neue Freundschaften, aber auch eine verlässliche Beziehung zu Kindern und Enkeln sind deshalb unerlässlich.
Ulrich Beer-Bercher