Für jedes Jahr ein graues Haar
Auf dem Boden liegen deine Socken, über einem Sessel dein Jackett, an der Garderobe hängt eine Krawatte. Gerade so, wie du sie ausgezogen hast. Ich räume sie nicht weg. Nicht jetzt.
Du schnarchst. Und ich liege wach. Ich rufe leise deinen Namen, du hörst nicht. Ich schreie aus Leibeskräften: „Du schnarchst!“, aber du murmelst nur unverständliche Worte und schnarchst weiter. Ich halte dir die Nase zu, du hustest – und schnarchst weiter. Wütend ziehe ich aufs Sofa. Aber ich bin zu wach, um wieder einschlafen zu können. Also stehe ich auf. Sonntags morgens, viertel vor sechs, jeder vernünftige Mensch liegt da selig schlummernd im Bett. Und ich stehe im Badezimmer vor dem Spiegel und zähle meine grauen Haare. Es sind jetzt neun. Eins fehlt noch, für jedes Jahr mit dir eins, denn jetzt sind wir schon zehn Jahre verheiratet. Eigentlich müssten es viel mehr sein – graue Haare meine ich. Auf dem Boden liegen deine Socken, über einem Sessel dein Jackett, an der Garderobe hängt eine Krawatte. Gerade so, wie du sie ausgezogen hast. Ich räume sie nicht weg. Nicht jetzt.
Durch die geschlossene Schlafzimmertür höre ich dich immer noch schnarchen. Ich gehe in die Küche und koche mir einen Kaffee. Zehn Jahre, meine Güte, zehn Jahre verheiratet. Zehn Jahre herumfliegende Krawatten, schmutzige Socken und – Schnarchen. Hat mich das damals nicht gestört?
Keine Ahnung. Unsere Nachbarn haben sich voriges Jahr scheiden lassen. Nach fünf Jahren Ehe. Sie haben sich einfach nicht mehr verstanden und am Ende nur noch angebrüllt. Verstehen wir uns noch? Letztens flogen auch bei uns die Fetzen. Da fragten die Kinder, ob wir uns jetzt auch scheiden lassen. Ich habe gelacht, ihnen über den Kopf gestrichen und gesagt: „Nein, sicher nicht.“ Sicher nicht? Heute Morgen wäre ich in der Stimmung. Ich bin mir übrigens auch immer noch bewusst, dass es außer dir noch andere Männer gibt. Männer, die nicht schnarchen und ihre Krawatten und Socken selbst wegräumen, die – Klischee hin, Klischee her - auch mal die Waschmaschine reparieren oder den Rasen mähen. Warum ich also immer noch ausgerechnet mit dir verheiratet bin? Wahrscheinlich aus demselben Grund, warum ich dich damals auch geheiratet habe: Weil du immer noch den Kopf voller verrückter Ideen hast, weil du meine Träume mit mir träumst, weil du mir Luft lässt zum Atmen, weil du zärtlich bist, treu und unendlich geduldig und der beste Vater dieser Welt. Und wenn ich dich auch manchmal hasse, anbrülle, in die Wüste wünsche: Wahrscheinlich liebe ich dich einfach noch immer.