An den Grenzen des Begreifens
Ein Unfall, ein Lottogewinn, ein Blitzschlag: Seit jeher rätseln Menschen, ob dahinter „nur“ der Zufall oder doch ein versteckter Sinn walten. Die Antwort ist lebenswichtig, erklärt Michael Scherer-Rath, und Religion hilft dabei.
Das Leben birgt viele Überraschungen. Nicht immer machen sie das Leben in Partnerschaft und Familie besser oder leichter. Unerwartete Ereignisse, ob positiv oder negativ, können unser Leben und das des ganzen familiären Umfeldes auf den Kopf stellen. Krankheit und Tod, die (ungeplante) Geburt eines Babys, ein plötzliches Wiedersehen, ein Lottogewinn oder ein Unfall stellen die Selbstverständlichkeit des Alltags abrupt in Frage.
Oft haben wir darauf keine Antwort, wissen nicht, wie wir mit dem unerwarteten Ereignis und der Situation, in der wir uns plötzlich befinden, umgehen sollen. Manchmal fehlen uns buchstäblich die Worte, um die eigenen Gefühle, Erwartungen, Ängste und Hoffnungen auszudrücken und das Geschehene zu deuten und einzuordnen. Die Betroffenen und deren Familien empfinden das als Krise, in der ihnen augenblicklich keine sinnvolle Problemlösung einfällt.
Lösungen?
Wer genauer hinschaut, stellt fest: Oft handelt es sich dabei um „Interpretationskrisen“, für die es gar keine Lösungen geben kann, weil wir auf diese Ereignisse keinen Einfluss haben. Sie übersteigen den eigenen Handlungsspielraum, und den Betroffenen gelingt es nicht, dem unerwarteten Ereignis einen Platz in der eigenen Lebensgeschichte zu geben. So erzählt eine 47-jährige Patientin: „Nach der Brustkrebs-Diagnose meines Arztes hatte ich das Gefühl, dass mir der Boden unter den Füßen weggezogen wurde.“ Und ein 53-jähriger Familienvater, der per Post die Kündigung seiner Arbeitsstelle erhielt, fühlte sich plötzlich, „als ob ich in ein tiefes Loch fiel.“
Ordnen, regeln, kontrollieren, scheitern
Menschen haben das Bedürfnis nach Orientierung. Seit jeher haben sie darüber philosophiert und theologisiert, was unerwartete Ereignisse für ihr Leben bedeuten. Purer Zufall? Oder steckt darin vielleicht doch eine tiefere Bedeutung? Manche gläubige Menschen suchen in solchen Situationen, die sie nicht greifen und begreifen können, die Verantwortung bei Gott.
Allerdings wächst die Zahl derer, die sich weigern, auf einen absoluten Weltlenker zurückzugreifen, mit dem sie die Welt erklären und unerklärliche Situationen begreifen können. Sie wollen die Verantwortung für menschliches Handeln nicht an einen Gott abtreten, geraten bei Interpretationskrisen aber in Erklärungsnot. Denn unsere Welt ist komplizierter geworden; wir spüren tagtäglich den Druck, immer mehr entscheiden zu können und zu müssen.
Zwischen Kontrolle und Ohnmacht
Und gleichzeitig erfahren wir die Ohnmacht, durch Medien, Banken und Politik „gelebt zu werden“, gedrängt zu werden, uns für oder gegen etwas zu entscheiden, das wir noch gar nicht ganz begreifen können. In dieser „riskanten“ Gesellschaft erfahren viele Menschen ihre persönliche Freiheit als bedrohlich, weil sie nicht wissen, wie sie mit diesem Spannungsfeld von Möglichkeiten und Unmöglichkeiten umgehen sollen. Untersuchungen bei 30- bis 40-jährigen Frauen und Männern haben gezeigt, dass die wichtigen Entscheidungen, die sie in diesem Lebensabschnitt zu treffen haben, sie ungeheuer belasten. Reicht meine Ausbildung aus? Müsste ich mich nicht noch weiter qualifizieren? Soll ich eine Familie gründen? Wie viel Zeit kann ich für meine Familie, meine alten Eltern aufbringen, wenn ich den Erwartungen des Berufslebens entsprechen möchte? Fragen, Entscheidungen, komplexe Zusammenhänge, die mit einer einfachen Antwort nicht zu bearbeiten sind.
Offensichtlich stößt unser Bedürfnis nach Orientierung hier an Grenzen. Wir greifen in unseren Lebensraum ein, ordnen, regeln, kultivieren – wir brauchen das, auch weil wir instinktarme Wesen sind. Solange wir aber davon überzeugt sind, dass Menschen endlos so weitermachen können, das Unbegreifliche unseres Lebens greifbar zu machen, zu kontrollieren und zu gestalten, werden wir eines Tages an unserer Blindheit vor den Grenzen unserer Möglichkeiten scheitern.
Das Angebot der Religion
Unser Leben ist geprägt durch Kontingenz. Das bedeutet: Alles hätte auch anders sein können. Ein Autounfall hätte nicht oder zumindest nicht so stattfinden müssen. Vielleicht lag es an einem Telefonat, durch das der Unfallverursacher sich verspätete, so dass er genau zu diesem Zeitpunkt (unvorsichtig) über die Kreuzung fuhr. Selbst Naturkatastrophen sind menschengemacht, vermuten viele Wissenschaftler, obwohl sie die Ursache oft (noch?) nicht genau erklären können. Trotzdem sollen und wollen wir dieses Unbegreifliche in unseren Alltag integrieren, weil es zum Leben gehört, mit den menschlichen Grenzen umgehen zu lernen.
Genau an diesem Punkt setzen Religionen an: Wie kann ich mich immer mehr als Mensch verstehen, ohne dabei abzuheben, mich selbst als Schöpfer zu denken und zu betätigen, ohne die Vorstellung zu haben, Endgültiges schaffen zu können? Wir brauchen die Religion, um unsere Grenzen und unsere Möglichkeiten und Freiheit in menschlichen Relationen verstehen zu lernen. So auch das Christentum. Die Botschaft Jesu Christi ist voll und ganz auf das Heilsversprechen Gottes gerichtet, dass wir Menschen als Geschöpfe Gottes teilhaben an der göttlichen Herrlichkeit im kontingenten Alltag. Das kommt unter anderem zum Ausdruck in den Fähigkeiten und Möglichkeiten, die wir einsetzen können (Kreativität, Geist, Verstand, Solidarität, Freiheit). Diese Teilhabe ist aber nur eine bedingte Teilhabe, weil wir lediglich Geschöpfe und nicht Schöpfer dieser Welt sind. Wir können nie alle Folgen unseres Handelns überblicken, sind nie vollkommen Herr oder Frau unseres Handelns, weil immer etwas dazwischenkommen kann.
Ein lebenslanger Lernprozess
Religionen, die darauf abzielen, die Freiheit des Menschen und das göttliche Heilsversprechen nicht gegeneinander auszuspielen, sind Angebote, mit dieser zentralen Seinsfrage adäquat umzugehen. Das christliche Heilsversprechen geht direkt auf diese Frage ein. Dem christlichen Glauben zufolge ist Jesus Christus, der Sohn Gottes, ganz Mensch geworden, der wie jeder andere auch den Kontingenzen des menschlichen Alltags ausgesetzt war. Wenn das Heilsversprechen Gottes schon in unserer Welt seinen Anfang nimmt und Jesus uns erzählt, dass sich sein Vater auf eine je überraschende Art und Weise offenbaren wird, dann doch wohl in der kontingenten Lebenserfahrung des Alltags.
Der Umgang mit dem Unerwarteten, das auch anders oder gar nicht hätte eintreten können, ist ein zentraler Baustein unseres Lebens, der darüber bestimmt, wie wir unser Leben betrachten und gestalten können.
Menschen sind kreative Wesen
Kreativität ist immer dann gefragt, wenn wir uns neu orientieren müssen. Dieser Prozess ist ein lebenslanger Lernprozess, und er sollte so früh wie möglich in der Kindheit beginnen. Schon im Kindesalter können wir lernen, dass das Leben endlich, aber kreativ gestaltbar ist, so dass Unerwartetes und Unbegreifliches greifbar gemacht werden kann in unseren Erzählungen, Riten und Handlungen. Das aber ist nur möglich, wenn wir Vertrauen entwickeln können in uns selbst, Partner, Familien und Freunde. Für das Schenken und Entwickeln dieses Vertrauens brauchen wir jedoch einen Anker, den wir im uneingeschränkten Vertrauen des liebenden, sich immer wieder überraschend anders zeigenden Gottes der Menschen finden.
Die Bibel und insbesondere das Alte Testament, wie beispielsweise das Buch Ruth, ist voll mit Erzählungen von Menschen, die über ihren Glauben in das göttliche Vertrauen in die Menschen berichten. Eltern, Familien, Schulen und Pfarrgemeinden haben die Aufgabe, diese Erfahrungen und Fähigkeiten vor allem Kindern, aber auch Erwachsenen zu vermitteln. Bekommen der kleine (Scheitern, Verlust, Schmerz) und der große Tod (Endlichkeit und Sterben) den gleichen Stellenwert in Paar- und Eltern- Kind-Gesprächen wie Glück, Erfolg, Freude und Liebe? Bietet der Religionsunterricht Möglichkeiten, den Umgang mit dem Leben und dem kleinen und großen Tod als Lebenskunst zu entdecken? Wird Kindern im Kommunionunterricht nicht nur Wissen vermittelt, sondern bekommen sie auch die Möglichkeit, die Geschichte Jesu konkret und kreativ zu erleben und zu gestalten (zum Beispiel in einer Art Gruppenbibliodrama)? Können Kinder erfahren, dass unerwartete Situationen neben Risiken oft auch neue, bisher unentdeckte Möglichkeiten bieten? Besitzen wir den Weitblick, um den Umgang und die Integration von Kontingenzerfahrungen zu vermitteln? Er ist lebenswichtig.