In der Liebe reifen – Sexualität partnerschaftlich gestalten

Im Bereich der Sexualität gab es in den vergangenen vier Jahrzehnten einen menschheitsgeschichtlich fundamentalen Wandel.

Sexualität: ein sensibler und störanfälliger Bereich

Durch Methoden einer sicheren Kontrazeption änderte sich die Gestaltung der Sexualität von einer innersten Linie durch Fortpflanzung bestimmten hin zu einer am sozialen und kommunikativen Miteinander orientierten, einer sozialen Sexualität. Diese Tatsache bedingt, neue Formen des Miteinanders zu lernen. Denn die wenigsten werden eine soziale Sexualität als Vorbild erlebt haben dürfen. Damit ist zugleich ein Grund dafür genannt, dass sie — auch bei sonst glücklichen Paaren — ein sehr sensibler und störanfälliger Bereich sein kann.

Sich um die Erfüllung sexuellen Lust bemühen

Einstellungen zur Sexualität und zu ihrer Gestaltung werden, wie auch andere menschliche Haltungen und Fähigkeiten, im Laufe des Lebens erworben. Dieser Lern- und Entwicklungsprozess beginnt schon lange vor der Pubertät, und der Mensch kann im Laufe seines Lebens Fähigkeiten für eine befriedigende Gestaltung der Sexualität dazu gewinnen. Die meisten Menschen suchen die sexuelle Erfüllung in einer auf Dauer angelegten Partnerschaft oder Ehe, wissen oft aber nicht, dass sie, nach einer Zeit des Verliebtseins und einer sexuellen Hoch- Zeit, sich um die Erfüllung ihrer sexuellen Lust auch bemühen müssen. Dieses Mühen kann verschiedene Gesichter haben. Zum einen gilt es, sich ein Wissen um das Funktionieren des eigenen Körpers und den des Partners zu erwerben, um realistische Vorstellungen von den gegenseitigen sexuellen Interessen und Möglichkeiten zu entwickeln. Zum anderen ist es wichtig, die eigene (sexuelle) Identität, das, was sich jemand als Mann sein und als Frau sein vorstellt, auf gegenseitige Stimmigkeit hinzu überprüfen. Das Überprüfen gilt auch den inneren Leitbildern, die man für sich und für die in der Partnerschaft gelebte Sexualität hat, um sich vor Überforderungen etwa durch eine sexualisierte Werbung und Filmindustrie zu schützen.

Über Sexualität sprechen

Am schwierigsten überhaupt scheint es zu sein, das sexuelle Miteinander zu benennen und darüber zu sprechen. Frau und Mann berühren sich, sie erleben ihre Lust, sie haben Wünsche, Sehnsüchte — sind aber wie gelähmt, wenn sie darüber miteinander sprechen wollen: Dadurch nimmt man sich einerseits die Möglichkeit, dem anderen zu sagen, wie befriedigend man das Beisammensein empfindet, was einem besonders gut tut. Zum anderen können sich leicht Missverständnisse aneinander reihen, mit der Folge, dass es kaum noch gelingt, die Sexualität einigermaßen befriedigend miteinander zu gestalten.

Sexuelle Probleme

Ein Problem kann das Auftreten funktioneller Sexualstörungen sein, wie z. B. der Impotenz oder der fehlenden Lust. In der Literatur gibt es nur ganz wenige theoretische Überlegungen hierzu. Den meisten Erklärungsmodellen gemeinsam ist die Annahme, dass die Störungen Ausdruck einer gehemmten oder fehlgeleiteten Entwicklung speziell der Sexualität und/oder der Persönlichkeit sind. Angst in Form der Leistungsangst und als Angst vor Versagen spielt eine zentrale Rolle in den Erklärungsmodellen. Ferner besteht eine Wechselwirkung zwischen individuellen, partnerschaftlichen und sexuellen Problemen. Wegen dieser Wechselwirkung ist oftmals eine Diagnose erschwert, da nicht klar ist, welche Probleme sich gegenseitig bedingen.

Wachstumsmöglichkeiten

Die Gestaltung der Sexualität kann selbstverständlich nicht losgelöst von den sonstigen Beziehungserfahrungen des Paares gesehen werden. Und wie in der Beziehung miteinander können Menschen auch in ihrem sexuellen Miteinander wachsen. Mit Wachstumsmöglichkeiten sind u. a. folgende Ziele gemeint:

  • Die Partner lernen, sich über ihr sexuelles Erleben, ihre Vorstellungen und Wünsche auszutauschen.
  • Die Verengung der Gestaltung von Sexualität ausschließlich auf die Geschlechtsorgane wird zugunsten eines Einbezuges des gesamten Körpers, mit Leib und Seele, geweitet.
  • Die Überbetonung des Orgasmus, das Reden von einem Vor- und Nachspiel, entwickelt sich zu einer gleichberechtigten Vielfalt des sexuellen und des sinnlichen Miteinanders.
  • Durch Emotionsübungen lernen die Partner, ihr Affektspektrum und dessen Ausdruck zu erweitern.
  • Paare begreifen die Gestaltung ihrer Sexualität als das je eigene und einmalige ihrer Kommunikation und übernehmen dafür Verantwortung.

Rudolf Sanders