Reden wir über Sex!

Den totalen Gleichklang, von dem Verliebte träumen, müssen sie sich erst erarbeiten: durch einen offenen Austausch über ihre Wünsche, Hemmungen und Ängste.

Verunsicherung durch Übersexualisierung

Die Tabus sind gebrochen. Im Stellenwert von Sexua­lität und im gesellschaftlichen Umgang damit vollzieht sich seit drei, vier Jahrzehnten ein dramatischer Wan­del. Sexuelle Moralvorstellungen verändern sich, Unter­schiede im Verhalten der Geschlechter verschwimmen, Beziehungen werden beliebiger. Das Thema Sex ist in der Öffentlichkeit allgegenwärtig, und kaum ein anderes wird dermaßen polarisiert: Aufwertung und Idealisie­rung hier, Abwertung bis hin zur Entwürdigung dort.

Diese Übersexualisierung ist jedoch nur die eine Seite der Medaille. Die andere beobachte ich in meinem berufli­chen Alltag als Ehe-, Familien- und Lebensberaterin: eine erschreckende Unfähigkeit, sich im privaten Raum mit dem Thema differenziert zu beschäftigen. Es scheint, als habe das Verschwinden der Tabus die Verunsicherung noch vergrößert. Paare konfrontieren mich mit allen möglichen Themen, doch den Bereich Sexualität spre­chen sie nur selten und wenn, dann oft verschämt an. Das Ansinnen, offen über die eigene Sexualität zu sprechen, stürzt vor allem junge Paare in große Verlegenheit. Ob­wohl sie ein zentraler Bereich einer Beziehung ist (oder vielleicht auch gerade deshalb), macht das Gespräch über Sexualität Angst; die Paare fühlen sich hilflos.

Offene Worte finden

Sexualität ist ein sehr sensibler Seismograph für die Zufriedenheit in einer Beziehung. Konflikte auf ande­ren Feldern wirken sich deutlich darin aus, umgekehrt macht sich sexuelle Unzufriedenheit oft in Unstim­migkeiten bei ganz anderen Fragen Luft. Dazu kommt: Entgegen romantischen Wunschvorstellungen von ab­soluter Übereinstimmung kommt es eher selten vor, dass sich zwei Menschen auf Anhieb sexuell vollkommen ver­stehen. Auch Verliebte bringen ihre je ganz eigenen Er­fahrungen, Werte und Ansichten zum Thema Sexualität mit in die Beziehung, die ihr Verhalten und ihre Gefühle beeinflussen. Und nur wenn sie sich diese unterschiedlichen Gefühle, Bedürfnisse, Wünsche, Hemmungen und Ängste mitteilen, kann die/der andere darauf ein­gehen. Offene Worte schaffen Verständnis füreinander und die Voraussetzung dafür, das gegenseitige Vertrauen in diesem sehr intimen und empfindlichen Bereich zu vertiefen. Wenn die Sexualbeziehung eines Paars die Lie­be der beiden lebendig ausdrücken soll, dann müssen sie bereit sein, die eigene Vorstellung davon zu erklären und möglicherweise auch zur Disposition zu stellen, um eine gemeinsame Sicht entwickeln oder zumindest die andere Sicht des Partners verstehen und genießen zu lernen.

EPL - ein Weg ins Gespräch zu kommen

Einen Weg, auch über das „heikle“ Thema Sex offen sprechen zu lernen, eröffnet (jungen) Paaren das Kom­munikationstraining EPL (= Ein partnerschaftliches Lernprogramm, siehe Stichwort EPL unten). Dabei spielt neben Themen wie „Das wünsche ich mir in unse­rer Beziehung!“ oder „Das trägt mich in meinem Leben und uns in unserer Beziehung!“ der Austausch über Intimität und Sexualität eine wichtige Rolle. Nach einem einleitenden Kurzvortrag bekommen die Teilnehmer „Wertekarten“, auf denen jeweils ein Begriff zum Thema „Sexualität“ steht, sowie Leerkarten, auf denen sie eige­ne Vorschläge eintragen können. Die Paare sollen sich daraus eine oder mehrere Karten aussuchen und sich darüber austauschen, wie sie diesen Begriff verstehen und wie wichtig er für ihre Vorstellung von Sexualität ist. Dabei können sie den Trainern signalisieren, ob sie die­ses Gespräch lieber alleine oder mit ihrer Unterstützung führen möchten.

Erfahrungsberichte aus dem Seminar:

Frau M., Grundschullehrerin, und Herr B., in der IT-Branche beschäftigt, die demnächst heiraten möchten, haben den Begriff „Lust“ gewählt und dabei ein sehr unterschiedliches Verständnis entdeckt. Während sie mit „Lust“ „Spontaneität“, „Erregung“ und „alles andere vergessen“ verbindet, versteht ihr Freund darunter ein „Gefühl der Nähe, Sicherheit und Geborgenheit“.

Frau M. fällt es zunächst nicht leicht, dieses Verständnis anzu­nehmen; sie weiß nicht so recht, wie sie damit umgehen soll. Ich ermutige sie, anhand eines konkreten Beispiels zu schildern, worum es ihr geht und wie sie sich dabei gefühlt hat.

Sie erzählt von einem Abend in der vergangenen Wo­che: Nach einem Fest bei Freunden wollte sie mit ihrem Freund intim werden. Er ließ sich darauf ein, bekam aber keine Erektion. Die scheinbar fehlende Lust ihres Partners, so Frau M., empfindet sie immer noch als sehr enttäuschend; sie fühle sich unattraktiv, habe Angst, wenn sie noch tiefer in sich hinein horche, spüre sie sogar Angst. Deshalb möchte sie dringend erfahren, wie er die­se Situation erlebt habe.

Herr B. geht zunächst auf die Angst seiner Freundin ein: Nie hätte er gedacht, dass sein Verhalten so starke Ängste in ihr auslöst; das wollte er nicht, es tut ihm sehr Leid. Er finde sie nach wie vor sehr attraktiv und sei glücklich über ihre Beziehung. Dann beschreibt er, dass er beruflich derzeit sehr eingespannt sei, viel zu viel arbeite und zu Hause kaum umschalten könne. An jenem Abend, so Herr B. weiter, fühlte er sich sehr müde und von den Wünschen seiner Freundin überfordert.

Frau M. fragt nach, möchte mehr über dieses Gefühl der Überforderung wissen.

Er erlebe ihre Erwartungen als belastend, spüre dadurch zusätzlichen „Leistungsdruck“, erklärt Herr B. An dem besagten Abend habe er nicht gewagt, offen darüber zu sprechen, aus Angst, seine Freundin erneut zu ent­täuschen. Er fühle sich sehr unmännlich, leide darun­ter, dem Idealbild des kraftstrotzenden, erfolgreichen Mannes nicht zu entsprechen. Um Versagensängste zu vermeiden, ziehe er sich immer mehr zurück, wohl wis­send, dass die Situation dadurch nur angespannter wird. In so einem Moment könne er seiner Freundin seine Zuneigung nicht zeigen; er habe das Gefühl, hinter einer immer höher werdenden Mauer gefangen zu sein.

Frau M. weiß von der beruflichen Belastung ihres Freun­des, ist aber sehr überrascht, dass er durch ihr Verhalten zusätzlichen Druck verspürt. Was kann sie tun, um die Mauer, die ihn umgibt, niedriger werden zu lassen?

Herr B. wünscht sich mehr Nähe durch zärtliche Berüh­rung. Er möchte gestreichelt werden, seiner Partnerin seine weiche Seite zeigen dürfen, einmal nicht „funk­tionieren“ müssen. Dann könnte er sich gut vorstellen, auch wieder mehr Lust auf Sexualität zu bekommen, sich von seiner Freundin sogar zu spontanen Verrücktheiten animieren zu lassen.

Frau M. ist sehr berührt. Sie habe ihren Freund noch nie so offen erlebt. Sie sei dankbar, jetzt von seinen Ängsten zu wissen, und natürlich bereit, ihm die gewünschte Zärtlichkeit zu geben. Letztendlich gehe es ihr ja auch, weit über den Akt hinaus, vor allem um Nähe.

Fazit

Solche Gespräche lohnen sich keineswegs nur für junge Paare, sondern auch nach langjähriger Partnerschaft. Denn erfüllte Sexualität ist eine gemeinsame, unter Umständen auch eine lebenslange Entwicklungsaufga­be. Die Einladung „Reden wir über Sex!“ kann deshalb auch nach vielen Jahren Ehe der Auftakt zu spannenden, intensiven Gesprächen sein, durch die Paare sich noch besser und immer wieder neu kennen lernen.

Claudia Büttner

Stichwort: EPL

Das Kommunikationstraining „Ein partnerschaftliches Lernprogramm“ (EPL) umfasst sechs Einheiten (= Abende), die systematisch aufein­ander aufbauen. Zunächst werden den Paaren spielerisch die Regeln und Fertigkeiten vermittelt, die einen gelungenen Austausch auch über „kritische“ Fragen, Meinungsverschiedenheiten und Probleme in der Partnerschaft ermöglichen. daran schließen sich Rollenspiele und schließlich echte Paargesprächen unter Begleitung der Trainer an.

Das Programm wurde wissenschaftlich über mehrere Jahre hinweg überprüft. Die Ergebnisse zeigen, dass EPL-Paare dauerhafte Lerneffekte erzielen und konstruktiver miteinander reden können als andere. das schlägt sich auch in geringeren Scheidungszahlen nieder.
Weitere Infos: www.epl-kek.de