Der lange Weg zur Reife
Auch wenn die Beteiligten das selbst oft nicht als Glück empfinden: Nur die Bereitschaft und Fähigkeit zur Veränderung kann die Stabilität von Paarbeziehungen und Familien sichern.
Grundbedürfnisse in eine gute Balance zu bringen
Von Anfang an streben Menschen nach Geborgenheit und Sicherheit, vor allem auch in Beziehungen. Ein Baby könnte kaum überleben ohne zuverlässige Bezugspersonen. Und wenn eine Paarbeziehung auseinander geht, leidet jedenfalls der, dem die Trennung aufgezwungen wurde, schrecklich darunter; denn selbst die unbefriedigendste Beziehung verspricht wenigstens noch eine Chance, dieses Grund-Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit zu erfüllen. Das ist die eine Seite.
Die andere ist das unbändige Bedürfnis von Menschen nach Freiheit und Veränderung. Auch das zeigt sich schon bei kleinen Kindern: Wenn sie Geborgenheit bei den Eltern gefunden haben, fangen sie an, die Welt um sich herum zu erforschen; (über-)fürsorglichen Eltern bereitet das manchmal große Sorgen.
Diese beiden Grundbedürfnisse in eine gute Balance zu bringen, ist eine lebenslange Aufgabe. Vor allem Paare und Familien tun sich oft schwer, Sicherheit und Geborgenheit einerseits und Freiheit und Veränderung andererseits so auszugleichen, dass alle damit zufrieden sind. Zum Beispiel in einer Paarbeziehung: Er sucht Nähe, sie dagegen möchte gerade etwas für sich allein machen. Daraus entsteht leicht ein Konflikt, weil beide Bedürfnisse zur Polarisierung tendieren: Je mehr die eine Seite Nähe, Verbundenheit, Geborgenheit sucht, desto mehr meint die andere, ihre Freiheit verteidigen zu müssen, und geht deshalb auf Distanz. Und je mehr und öfter sie Distanz sucht, desto mehr glaubt er dafür sorgen zu müssen, dass auch wieder Nähe entsteht...
Zwischen Nähe und Aufbruch
Auch den Kindern gegenüber geht es um diese Balance, auch wenn es hier andere „Strategien“ braucht als in der Paarbeziehung. Immer mehr müssen Eltern den Freiheitsdrang der Heranwachsenden zulassen, manchmal sogar herausfordern, indem sie zum Beispiel das „Hotel Mama“ schließen. Kinder brauchen aber auch Begrenzung durch klare Regeln, die die nötige Sicherheit vermitteln, und „innerhalb“ dieser regeln müssen sie jederzeit emotionale Geborgenheit spüren. Damit schaffen Eltern die besten Voraussetzungen, dass ihre erwachsenen Kinder später in ihren Partnerbeziehungen und Familien ihrerseits die richtige Balance zwischen den beiden Grundbedürfnissen zu finden imstande sind.
Stabilität ist nur durch Veränderung zu sichern
Außerdem wirken diese Kräfte keineswegs immer mit gleicher Kraft in die gleiche Richtung. Kinder, aber auch Jugendliche fordern phasenweise mal Beachtung für ihren Freiheitsdrang ein, mal suchen sie den „sicheren Hafen“ bei den Eltern; genauso wechseln auch in Paarbeziehungen Phasen, in denen mal die Sehnsucht nach Geborgenheit und Nähe und mal die nach mehr Distanz und Freiheit für den einzelnen Partner dominieren. Die Zeiten ändern sich – und damit verändert sich auch, „was dran ist“, und so müssen die Beteiligten immer wieder eine neue Balance herstellen.
„Das Leben“ selbst erzwingt also immer wieder solche Aufbrüche aus dem Bisherigen und damit Veränderungen, auch wenn die Beteiligten das oft ganz und gar nicht als „Glück“ empfinden. Doch für menschliche Systeme gilt der paradoxe Grundsatz: Stabilität ist nur durch Veränderung zu sichern. Sie durchlaufen nämlich in ihrer Geschichte unterschiedliche Phasen; für Paare, die ja die Hauptverantwortung für gelingende Veränderungen in der Familie tragen, sind es vier:
- das junge Paar ohne Kinder
- das Paar mit kleinen Kindern
- das Paar mit heranwachsenden Kindern
- das alternde und alte Paar
Wo das Leben kritisch wird
Vor allem die Übergänge zwischen diesen Phasen erweisen sich oft als kritisch: Sie machen Aufbrüche nötig, da sonst die Gefahr der Stagnation oder des Auseinanderbrechens des Systems droht.
• Ein typisches kritisches Ereignis bei jungen Paaren ist zum Beispiel die Frage nach der Ehe: Sollen wir unsere Beziehung in eine verbindliche „Lebens-Gemeinschaft“ verwandeln, oder bleibt es bei einer unverbindlichen „Freundschaft“ – oder steht gar eine Trennung an? Die zweite „kritische“ Frage kündigt den Übergang zur Familienphase an: Wollen wir Kinder haben oder nicht? Beide Fragen machen Angst und können Paare in eine Krise stürzen, weil die Antwort entweder das Freiheits- oder das Sicherheitsbedürfnis bei einem oder bei beiden Partnern bedrohen.
• In der zweiten Phase, erweist sich vor allem die Geburt oft als höchst kritisches Ereignis – auch wenn der Nachwuchs von beiden erwünscht war. Aus der Zweierbeziehung („Dyade“) wird ziemlich plötzlich eine Dreierbeziehung („Triade“); bei Paaren mit kleinen Kindern bleibt nach dem „Babyschock“ in ihrer Beziehung nichts, wie es bisher war. Der kleine Erdenbürger macht seine Bedürfnisse drastisch deutlich; die Eltern müssen ihre gemeinsame Sorge für das Kind mit ihren beruflichen Engagements abstimmen und mit den Bedürfnissen der Paarbeziehung (Zeit miteinander, Sexualität ...) in Einklang bringen. Die meisten Ehen in Deutschland zerbrechen in dieser Zeit, weil die Balance „Beruf – Beziehung – Familie“ nicht gelingt.
• Bei Paaren mit heranwachsenden Kindern stellt sich das Problem oft umgekehrt: Frauen, die ihre Hauptaufgabe in der Kindererziehung sahen oder durch die Umstände sehen mussten, leiden jetzt, da die Kinder immer mehr flügge werden, unter dem „Leeren-Nest-Syndrom“. Männer haben in diesem Alter oft beruflich erreicht, was zu erreichen war, und geraten in die „Middle-Life-Crisis“, weil sich ihnen die Sinn-Frage neu stellt: „War das schon alles?“ Die Aufbauarbeit für Existenz, Familie und Kinder ist geleistet – worin finden die beiden jetzt ihren Lebenssinn? Außerdem entdecken manche Paare jetzt, dass sie sich als Partner aus den Augen verloren haben und die Sexualität miteinander eingeschlafen ist. Das Ergebnis sind Ausbrüche – die Zahl der Trennungen erreicht den zweiten Gipfel.
• Bei alternden und alten Paaren werden Trennungen und Scheidungen zwar seltener; im Vergleich zu früheren Jahrzehnten steigen die Zahlen jedoch stark. Sie erleben den „endgültigen“ Auszug der Kinder aus der Familie oft als schweren Verlust, und auch das Ende des Berufslebens – vor allem wenn die Männer zuerst in Rente gehen – verändert die bisherigen Beziehungsmuster vieler Paare dramatisch. (Loriots „Papa ante portas“, wenn auch überzeichnet, lässt grüßen.) Spätestens jetzt macht sich der Alterungsprozess bemerkbar; altersbedingte und/oder chronische Leiden können weitere Irritationen in die gewohnten Abläufen des bisherigen Lebens bringen und starke Veränderungen der bisherigen Verhaltensrepertoires von Mann und Frau verlangen.
Bis hierher: Und wie weiter???
Damit die Stabilität des Paar- und Familiensystems erhalten bleibt, müssen sich die Beteiligten also immer wieder auf Instabilität einlassen. Das heißt: Es muss immer wieder Krisen geben, damit Entwicklung möglich bleibt; Krisen sind die Herausforderung für nötige Veränderung und für Entwicklung. Bleibt nur die Frage: „Entwicklung wohin?“ Was ist das Ziel all dieser notwendigen Veränderungen? Die Antwort ist ein Begriff, der sich schwer genau definieren lässt: menschliche Reife. Oder mit anderen Worten: die Fähigkeit zu reifer, erwachsener Liebe. Ein paar Stichworte dazu: Die kritischen Herausforderungen für junge Paare – Verbindlichkeit, Familien-Perspektive – markieren den letzten Schritt zur Loslösung aus der inneren Abhängigkeit von den Eltern, aus der kindlichen Geborgenheit in die Freiheit eines eigenen erwachsenen Lebens. Damit beginnt die Entwicklung zu reifer Bindung im Verein mit reifer Autonomie in einer erwachsenen Beziehung. Die Entscheidung für Kinder fordert in der zweiten, der Familienphase zur Entwicklung von „Elternschaft“ heraus, zur Entwicklung von Väterlichkeit und Mütterlichkeit – und das, ohne die Qualität der Liebesbeziehung auf der Mann-Frau-Ebene zu verlieren.
Versöhnen und Loslassen
In der dritten Entwicklungsphase, also bei Paaren mit heranwachsenden Kindern ist vor allem eine neue Sinnfindung gefragt, die sich mehr „nach innen“ richtet und sich weniger in äußerem Erfolg erschöpft. Dazu gehört auch das Thema „Versöhnung“ – mit den eigenen Eltern, die alt, womöglich pflegebedürftig und dadurch neu zum „Problem“ werden, aber auch im Blick auf alte Verletzungen durch den Partner, die nicht verziehen sind. Solche Verletzungen können eine neue Annäherung des Paares verhindern, wofür jetzt ja wieder mehr Zeit da wäre.
In der letzten, der Altersphase stellen sich außerdem vielfältige Herausforderungen loszulassen – Kinder, Berufe, Vitalität, Gesundheit. Dabei kann Zweierlei sehr helfen: ein neues „Bündnis der Zärtlichkeit“ mit dem Partner angesichts dieser Bedrohungen und eine Vertiefung oder Neubelebung einer religiösen Haltung, die sich in einem übergreifenden Ganzen, oder, personal ausgedrückt, in Gott geborgen weiß.
Hans Jellouschek