Eine Tür in der Kirche

Das hätten die meisten von der Kirche so nicht erwartet: In Verfahren um die Auflösung kirchlicher Ehen geht es nicht um Schuld oder Nicht-Schuld, sondern um die Motive der Ex-Partner. Für viele wird das ein schwieriger, aber klärender Prozess.

Gescheiterte Ehen sind mein täglich Brot. Zu mir ins Offizialat, das kirchliche Ehegericht, kommen Frauen und Männer, deren erste Ehe gescheitert ist und die gehört haben, dass es in der katholischen Kirche die Möglichkeit gibt, vor dem Altar geschlossene Ehen wieder auflösen oder annullieren zu lassen. Manche wurden von ihrem Heimatpfarrer oder pastoralen MitarbeiterInnen auf diese weitgehend unbekannte Möglichkeit hingewiesen. Viele sind mittlerweile eine neue Beziehung eingegangen und möchten ihre Eheangelegenheiten vor den Augen der Kirche geregelt bekommen. Häufige Anlässe für den Gang zum Offizialat sind auch Taufe oder Erstkommunion eines Kindes oder das schmerzhafte Erleben, nicht zur Kommunion zugelassen zu sein.

Die „Schuld“ ist nicht so wichtig

Auch wenn am Ende eines Verfahrens das „Urteil“, sprich: die gerichtliche Feststellung steht, ob die Ehe unter kirchenrechtlichen Gesichtspunkten gültig zustande gekommen ist oder nicht: Für mich als Theologin und Diözesanrichterin stehen zu Beginn eines Verfahrens und während der Beweiserhebung die betroffenen Menschen im Mittelpunkt. Beim ersten Gespräch mit mir im Offizialat wissen viele nicht, dass wir uns vornehmlich unter rechtlichen Aspekten mit der ersten Ehe befassen. Daher gilt es, gleich zu Beginn klar zu stellen: Für das kirchliche Ehegericht ist nicht so bedeutsam, woran die Ehe gescheitert ist und bei welchem Partner vermeintlich die größeren Schuldanteile zu finden sind. Vielmehr kommt es uns wesentlich darauf an: Wie waren die beiden Menschen, als sie geheiratet haben? Was wollten sie voneinander wirklich? Mit welchen Hoffnungen, Erwartungen und Zielsetzungen sind sie in die Ehe gegangen?

Wichtig für uns ist auch: Inwieweit waren die Partner bindungsfähig und damit auch konfliktfähig? Waren sie zum Zeitpunkt der Eheschließung von ihrer Persönlichkeit her so stark, dass sie eine so wichtige Entscheidung wie die zur Ehe eigenverantwortlich und kompromisslos treffen konnten?

Wenn ich das klar mache, reagieren manche Ratsuchenden verwirrt. Einige haben erwartet, ich würde sie wegen ihres schweren Schicksals bedauern; andere erwarten eine geistliche oder pastorale Begleitung in einer schwierigen Lebenssituation oder suchen eine „offizielle“ kirchliche Rechtfertigung ihres Handelns – vor allem dann, wenn sie selbst die Ehe verlassen haben. Manche versprechen sich von einem kirchlichen Eheprozess eine therapeutische Wirkung – für sich und gelegentlich auch für den ehemaligen Partner. Alle diese Erwartungen kann das Ehegericht nicht erfüllen, und ich lege Wert darauf, das schon vor Beginn eines Verfahrens klarzustellen.

Nach einer grundlegenden Information über Verlauf und Ziel eines kirchlichen Eheverfahrens mache ich mich mit demjenigen, der zu mir gekommen ist, zunächst in aller Unverbindlichkeit auf die Suche nach den Momenten, die in der Vorgeschichte der Ehe oder in der Einstellung der Partner zur Ehe nicht so waren, wie es das kirchliche Recht als unbedingt notwendig für einen Ehevertrag ansieht. Solche „Mängel“ können, wenn die Betroffenen es wollen, zum Klagepunkt erhoben werden; sie sind dann Gegenstand der Prozessfrage, der Beweiserhebung und letztendlich auch des kirchlichen Urteils.

Gespräche gehen "unter die Haut"

Die Gespräche im Laufe eines Verfahrens gehen vielen der Beteiligten unter die Haut. Gerade weil es dem kirchlichen Recht nicht um gut oder böse, um schuldig oder nicht schuldig geht, erfordert es von den Beteiligten viel Mut, sich zu öffnen, die Vergangenheit noch einmal Revue passieren zu lassen, zu ihren Hoffnungen, Freuden, Erwartungen, den Verletzungen und Enttäuschungen zu stehen und sie in Worte zu fassen. Viele erfahren das Gespräch als wohltuend, als reinigend und klärend, manchen kommen die Tränen. Aber fast alle verlassen mein Büro irgendwie erleichtert in dem Gefühl, vor einer Vertreterin der Kirche ihre Lebensgeschichte und ihre Position so dargestellt zu haben, wie es für sie real war.

Vielleicht überraschend: Auch viele Partner, die das Verfahren nicht eingeleitet haben und die vielleicht selbst gar kein Interesse an der Annullierung ihrer Ehe haben, nehmen meine Einladung zu einem Gespräch und zu einer Beteiligung am Verfahren an – selbst wenn sie der Kirche fern stehen. Vor dem kirchlichen Gericht haben beide Partner die gleichen Rechte; daher laden wir auch den nicht klagenden Partner immer zu einer Anhörung ein. Jeder soll die Chance bekommen, seine Ehe aus seiner Sicht darzustellen. Einige wissen, dass es ihrem ehemaligen Partner wichtig ist, wie die Ehe kirchlich gesehen wird, und möchten ihm keine Steine in den Weg legen; andere möchten etwas „wieder gut machen“, wieder andere stehen dazu, dass die Voraussetzungen für eine Ehe von Anfang an nicht gegeben waren und haben keine Scheu, dazu Stellung zu nehmen. Vielen geht es aber auch darum „geradezurücken“, was der klagende Partner ihrer Meinung nach wahrscheinlich „falsch“ geschildert hat – vor allem dann, wenn Ehen sehr unglücklich endeten und die Partner nach einer Scheidung nicht versöhnt miteinander umgehen können.

Ganz gleich, aus welchen Motiven die Menschen den Weg zur gerichtlichen Befragung gefunden haben: Allen ist wichtig, zu einem zentralen Bereich ihres Lebens angehört und ernst genommen zu werden, zu merken, dass ihre Auss­ge gewichtet und geschätzt wird. In Einzelgesprächen zuerst mit dem klagenden, dann mit dem nicht klagenden Partner und später mit Zeugen merke ich oft: Jeder erzählt aus seiner eigenen Perspektive, bietet Erklärungen an, die sich natürlich nicht in allen Punkten mit denen der anderen decken. Manchmal wundere ich mich, wie groß die unterschiedlichen Einschätzungen sind; manchmal bin ich beeindruckt von der Großherzigkeit und einer gewis­sen Weisheit, mit der die Partner einander schildern.

Zu Beginn meiner Tätigkeit am kirchlichen Ehegericht erwachte in mir bisweilen ein detektivischer Spürsinn, ich wollte wissen, wie es „wirklich“ war. Je mehr ich jedoch die Menschen kennen gelernt habe und je tiefer mein Einblick in die verschiedenen Lebens- und Familienverhältnisse auch im intimen Bereich geworden ist, umso unlösbarer erscheint mir die Frage nach der objektiven Wahrheit. Ich merke, dass jeder seine Sichtweisen und seine Geheimnisse hat, die er bewahren möchte. Ich kann diese Geheimnisse – wenn sie nicht von ausschlaggebender Bedeutung für die Prozessfrage sind – als solche achten und im Raum stehen lassen. Heute sehe ich meinen Auftrag darin, den Frauen und Männern auf der anderen Seite des Schreibtischs innerhalb der Kirche eine Tür zu öffnen, damit sie ein schmerzliches Kapitel der Lebensgeschichte abrunden und möglicherweise mit der Kirche offen sein können für eine neue Lebensgemeinschaft.

 

Hildegard Grünenthal