Der verweigerte Dialog
Wir dürfen streiten, sogar mit Gott. Die Beispiele Abrahams und Jakobs ermutigen ausdrücklich dazu. Und Kain hätte seinen Bruder danach nicht umbringen müssen.
Der erste Mord geschieht in der Lesart der Bibel an einem Bruder. Wegen einer Bevorzugung. Das gibt es in jeder Familie: Ein Kind fühlt sich übergangen, zurückgesetzt. „Ja, du! Du kannst dir bei Vater, bei Mutter alles leisten!“ So tönt es. Der „Lieblingssohn“: ein uraltes Thema durch die Jahrhunderte in der Realität und in der Literatur. Und offenbar will eine Gleichbehandlung auch Gott, dem Großen Vater nicht gelingen. Jedenfalls nicht, nachdem der Mensch das Paradies der ersten Unschuld verloren hat. Gott tut sich nicht leicht mit der neuen Situation. So mischt sich in den „normalen“ Geschwisterstreit auch noch die Religion, bei der der Name Gottes gebraucht und missbraucht wird.
Eine Blutspur im Namen Gottes
Der erste Mord hat seinen Ausgangspunkt in einer religiösen Symbolhandlung. So erzählt es ein unbekannter Theologe der Bibel. Der Auslöser zu diesem tödlichen Konflikt ist für ihn ein von Gott übersehenes Opfer. Der erste Brudermord, Menschenmord, hat seine Ursache in einer unverständlichen, eigenwilligen Gottesentscheidung. Im Paradies kam der Mensch nicht auf die Idee, Gott zu opfern. Warum auch? Er brauchte keine Tiere zu schlachten, um Gott einen Gefallen zu tun oder ihn zu besänftigen. Der Mensch lebte im Gefallen Gottes. Es gab auch keine heiligen Plätze, Tempel oder Heiligtümer. Gott und Mensch wohnten zusammen in einer Lebensgemeinschaft. Es bedurfte keiner Religion, keiner Symbole. Das Leben war unmittelbar. Es war ein Fest, bei dem sich alle aneinander freuten.
Religion ist, wie vieles andere, ein Ergebnis von Paradiesverlust. Sie ist eine Folge verlorener Sicherheit. Gott und Mensch trauen sich außerhalb des Paradieses nicht mehr über den Weg. Sie müssen sich ständig ihrer Treue und ihres guten Willens vergewissern. Und misstrauen doch einander. Jeder hat seine Mittel, den anderen gnädig zu stimmen. Aber er weiß gleichzeitig genau, wie er den anderen treffen kann. Gott schickt gute Ernten und erntet Dank dafür. Der Mensch antwortet mit Erstlingsfrüchten oder schlachtet erstgeborene Tiere. Doch der Erfolg ist mäßig. Weder Gott noch Mensch wissen, ob nicht der andere ihn dabei hintergeht. Der Mensch opfert schlechtes Vieh oder Abfallprodukte und holt sich die fetten Brocken selbst (vgl. Mal 1,7-9). Und Gott antwortet sehr willkürlich auf die Opfer des Menschen: „Der Herr schaute auf Abel und sein Opfer, aber auf Kain und sein Opfer schaute er nicht.“ (Gen 4, 4f.). Warum?
Wessen Opfer nimmt Gott an?
Alle Versuche, die Schuld bei Kain zu suchen, etwa in seinem Unglauben, gehen fehl (vgl. Hebr 11,4). Kain tat das gleiche wie Abel: Er opferte das Beste. Er war nicht weniger gottesfürchtig als sein Bruder. Die Frage richtet sich zuerst an Gott: Warum bevorzugte er
Abel? Oder muss die Frage doch an die Brüder gestellt werden? Sie hätten der Entscheidung Gottes zuvorkommen können. Das hätte allerdings ein gemeinsames Tun verlangt, ein gemeinsames Opfer. Gott wäre nicht in die Verlegenheit gekommen, sich entscheiden zu müssen: für den einen, gegen den anderen. Dass es gerade Kain getroffen hat, ist im Geheimnis des Ratschlusses Gottes verborgen. Es ist so, sagt der biblische Erzähler. Der Mensch hat sich damit abzufinden. Und nicht hinüberzuschielen. Lag darin etwa die Sünde Kains, dass er den Blick von seinem Opfer weg auf das Opfer des Bruders richtete? Wäre er bei sich geblieben, hätte er gar nicht bemerkt, was dort vor sich ging. Der Seitenblick ließ ihn erstarren – ähnlich wie später der Rückblick von Lots Frau auf das brennende Sodom oder der neidische Seitenblick bei Erbschaften, der so viele Familien gegeneinander treibt.
Aber ganz so einfach ist die Sache doch wieder nicht. Ahnt Gott, dass die Katastrophe kommt? Er spricht Kain an, den es ganz heiß überläuft und dessen Blick sich senkt. Hat Gott plötzlich ein „schlechtes Gewissen“? Reut ihn seine Bevorzugung? (Die Bibel spricht häufiger von der „Reue“ Gottes.) In der Welt des paradiesischen Gartens war alles einfacher. In der neuen Welt, die ihre Unschuld verloren hatte, macht auch Gott neue Erfahrungen. Es war ein tödlicher Fehler, das eine Opfer zu sehen und das andere nicht. Denn die Einseitigkeit Gottes säte den Keim der Rivalität zwischen den Brüdern. Wer hat das bessere Opfer? Wessen Opfer nimmt Gott an? Das wird fortan die religiöse Frage. Die Entscheidung für das Opfer des einen und gegen das Opfer des anderen ist die Geburtsstunde der Religionskriege, ein Geschwisterstreit, sagt der biblische Text. Aber eigentlich lag der Grund schon im Verhalten des Menschen, der sich nicht auf eine gemeinsame Gabe einigen konnte. Und Gott bestätigte durch sein Verhalten, durch seine Bevorzugung, die Uneinigkeit. Er vertiefte sie. Oder wollte er die Menschen damit aufeinander verweisen? Sie etwa dazu bringen, sich für den Bruder, die Schwester einzusetzen? Doch bis dahin war noch ein weiter Weg. Es bedurfte eines Abraham, der sich gegen den Untergang der dem Tod verfallenen Städte wehrt.
Kain fehlte der Mut des Jakob
Dass Kain den Bruder umbringt, ist eine Ersatzhandlung. Die Wut Kains galt Gott, nicht Abel. Aber Gott gegenüber glaubte Kain sich nicht stark genug. Erst Abraham versuchte, Gott von seinen Vernichtungsplänen gegen Sodom und Gomorra abzubringen (Gen 18,16-33). Noch einen Schritt weiter ging Jakob: Eine Nacht lang kämpft er mit Gott. Und beim Anbruch des Tages lässt er nicht los, bis ihn Gott gesegnet hat. Jakob war in der biblischen Reihenfolge der Erste, der sich um seinetwillen nicht mit dem Willen Gottes zufrieden gab. Und sein Protest hatte Erfolg. Als Gesegneter verließ er den menschlich-göttlichen Ringplatz, wenn auch als Hinkender, als Gezeichneter. Es ist ein Lernweg für beide, für Gott und Mensch. Das Gespräch, das Gott mit Kain nach der Katastrophe des Mordes führt, ist der verspätete Anfang. Immerhin kostete er Abel das Leben. Wäre es zu diesem Gespräch sofort nach Gottes Willkürakt und seinem anschließenden Gesprächsangebot gekommen, hätte der Mord verhindert werden können. Und damit auch das Auseinanderfallen der Religionen, vielleicht sogar der Menschheit. Weil Jakob sich der Auseinandersetzung mit Gott stellte, brauchte es keinen Brudermord zu geben. In friedlicher Distanz werden Esau und Jakob hinfort nebeneinander leben (vgl. Gen 32-33.; bes. 32, 23-33). Und Gott ist einverstanden.
Die Dichtung Israels, seine Weisheit, hat beeindruckende Sprachzeugnisse von diesem Ringen des Menschen mit seinem Gott – und auch der Menschen untereinander. Sie zeigen, zu welcher Kreativität gegenseitige Provokationen führen können. Auf Seiten des Menschen entsteht eine „Streitkultur des Betens“. Beide, Gott und Mensch, schonen sich nicht: „Kehre dich her, JAHWE, reiße mich heraus, schaff mir Heil ob deiner Bundeshuld! Denn im Todesreich rühmt dich niemand, in der Unterwelt, wer lobpreist dich da?“( Ps 6,5-6 ) Das ist fortan der Ruf des Menschen in seiner Not. Aber auch der Mensch muss sich erinnern lassen an diesen Bund. Wer ist da mehr in der Schuld des anderen?
Streitgespräche retten Leben
Eines aber zeigen diese Wortauseinandersetzungen: Die miteinander im Wort Ringenden müssen einander nicht umbringen. Solange die Gesprächspartner im Dialog bleiben, auch wenn sie ein Streitgespräch führen, bleiben sie beieinander – in Distanz, aber mit dem Gesicht zueinander. Doch auch im Streit bestreiten sie nicht das Leben des anderen. Vielmehr lernen sie dadurch das Anderssein des Anderen, wenn auch auf schmerzlichem Weg, kennen. Das Streitgespräch ist ein durchaus kreatives Geschehen, wenn man es nicht als Katastrophe sieht.
Hätte Kain schon den Mut des Jakob gehabt oder die „Sprachhilfe“ der Psalmen benutzt, hätte es nicht zum Brudermord kommen müssen. Gott hätte sich dann rechtfertigen können wegen seiner Einseitigkeit. Die Geschichte wäre anders verlaufen, die Religionsgeschichte zumal. Der erste Mord war – nach der Bibel – das Ergebnis einer Rivalität: Wer hat das Ansehen Gottes? Wer hat die duftendere Gabe? Es ist die Geburtsstunde jeder Religion, weil jede Religion Gott wohlgefälliger sein will. Vielleicht schmeichelt Gott diese Rivalität. Aber für die Menschheit ist sie eine Katastrophe, der Beginn eines blutigen Weges. Eines Weges, der, so ist zu befürchten, noch viele Opfer kosten wird. Um Gottes willen?
Ehe Gott und Mensch „das zweite Paradies“ betreten, wie das letzte Buch der christlichen Bibel hofft, in dem alle Opfer aufhören – und jede Religion –, tobt der Geschwister-Krieg der Religionen. Er ist eine Geschichte der verweigerten Gespräche – aus Angst und oft auch aus falscher Unterwürfigkeit einem Gott gegenüber, dessen Reaktionen jede Religion zu kennen glaubt. Die Bibel will uns in vielen ihrer Erzählungen (so etwa im Buch Hiob) zum Dialog ermutigen, auch zum Streitgespräch mit Gott, der sich gerne an seine Barmherzigkeit erinnern lässt. Sie ist überzeugt, dass dadurch Leben gerettet wird und wir einander kennen lernen – und nicht nur von der schlechtesten Seite. Das alles gilt natürlich auch für das Streitgespräch unter Menschen. Und es ist keine Katastrophe.
Wilhelm Bruners