Spiritualität in der Familie: Räume - Zeichen - Ausdrucksformen

Familien sind auf der Suche ihre Religion heute zu leben: zwischen Traditionen und neuen Formen müssen sie ihren Weg finden.

1. Familien auf der Suche

Spiritualität in der Familie ist ein aktuelles Anliegen. Familien sind auf der Suche nach möglichen Räumen, Zeichen und Ausdrucksformen der Ihrer Religion, ihrer Spiritualität, ihrer Frömmigkeit – die einen eher diffus und unreflektiert, die anderen ganz bewusst, viele auch ratlos. Nach mehr oder weniger heftigen Traditionsbrüchen wird in zunehmendem Maß eine religiöse Sprach- und Kulturarmut bewusst, die Unbehagen bereitet. Bei der daraus resultierenden Suche kann die Kirche zu einem wichtigen Gesprächspartner werden.

2. Religion, Spiritualität und Frömmigkeit

Religion kann man als Bewusstsein eines umfassenden Deutungsrahmens verstehen, in den das menschliche Dasein gestellt ist und zu dem es in einer Beziehung der „existentiellen Herkünftigkeit“ (K. Rahner) steht. Gelebte Spiritualität ist das Bemühen, aus diesem existentialen Bezug sein Leben – auch das alltägliche Leben – zu deuten und zu gestalten.

Von Frömmigkeit wird man insbesondere dann reden, wenn dieser spirituelle Bezug bewusst zum Ausdruck gebracht wird. Als Formen der Frömmigkeit kommen alle expliziten Formen menschlichen Ausdrucks in Betracht: Sprache, Gestus, Habitus, Handlung, Symbol. Authentisch ist dieser Ausdruck, insofern und insoweit er mit der Spiritualität der ausdrückenden Personen in Übereinstimmung steht. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es eine Wechselwirkung zwischen Ausdruck und Bewusstsein, zwischen Frömmigkeit und Spiritualität gibt.

Frömmigkeit und Spiritualität stehen immer im Zusammenhang von Tradition. Die Traditionsbindung verleiht Kontinuität, Herkunft und Bewahrung dessen, was sich bewährt. Wer die Loslösung von Traditionen allgemein als Befreiung erlebt, wird in traditionellen Frömmigkeitsformen weniger einen authentischen Ausdruck seiner Spiritualität finden können. Wer in einem stark enttraditionalisierten Umfeld lebt, dem wird der Zugang zu tradierten Ausdrucksformen nicht ohne weiteres möglich sein. Es ergibt sich jedoch auch die Chance, das Tradierte als etwas Neues wiederzuentdecken.

3. Spiritualität in der Familie

Die Situation der Spiritualität in der Familie stellt sich zwiespältig dar.
Auf der einen Seite ist der bereits erwähnte Traditionsbruch nicht zu übersehen: „Selbst unsicher geworden und auf Distanz zur Kirche lebend, wissen junge Eltern nicht, wie sie es mit der Religion in der Erziehung ihrer Kinder halten sollen.“ (N. Mette, „Familie“ in: LexRp 542) Tradierte Frömmigkeitsformen wurden im Zug einer aufklärerischen Befreiung von überkommener Religion und wegen ihrer als mangelhaft empfundenen Authentizität weitgehend abgelegt. Modernisierungs- und Mobilitätszwänge, der mehr oder weniger deutliche Anpassungsdruck eines nach-volkskirchlichen oder sogar nach-christlichen Umfelds und die vielfältige Oberflächlichkeit einer Konsum- und Mediengesellschaft tragen das ihrige dazu bei, dass ein Hineinwachsen in die Traditionen der Frömmigkeit erschwert oder gar unmöglich wird.

Auf der anderen Seite sind Familien auch in Zeitströmungen einbezogen, die – etwas plakativ zwar – mit „Wiederkehr des Religiösen“ oder „Neuentdeckung der Spiritualität“ gekennzeichnet werden. Familien sind auf der Suche nach gemeinsamen und zugleich authentischen Ausdrucksformen ihrer Religiosität. Dabei ist die Familie der Lebensbereich der ersten und der bleibenden personalen Beziehungen. Familien bilden den engsten Lebenskreis von Menschen, den intimsten Erfahrungsraum personaler Entfaltung mit ihren Höhen und Tiefen. Wo, wenn nicht hier, brechen Fragen nach dem auf, was es mit dem Menschen ist. Erfahrungen von Glück und Sorge, Hoffnung und Angst, Gelingen und Scheitern, von eigener Verantwortung und eigenem Ungenügen können dabei jedoch nicht von der Familie als letztverantwortlicher Personalgemeinschaft allein aufgefangen und getragen werden. Dies von ihr zu erwarten, würde bedeuten, ihr einen pseudoreligiös überhöhten Status zuzuweisen, den sie realistischerweise nicht ausfüllen kann. So ist die Familie über sich selbst hinaus verwiesen auf den umfassenden Deutungsrahmen der Religion. Kinder haben hier bekanntlich ein besonders feines Gespür für die „großen Fragen“. Aber auch die Situation sorgender Eltern umfasst viele, hierfür sensibilisierende Aspekte.

Zugleich ist Familie ein ausgesprochen dynamisches Unternehmen. Im Wechsel der Entwicklungsphasen von Partner- und Eltern-Kind-Beziehungen ändern sich stetig die Lebenssituationen von Familien. Auch die Spiritualität und die Frömmigkeit sind in diese Dynamik einbezogen. Vieles lässt sich nicht auf eine stabile Form festlegen. Ausdrucksformen, die in der einen Phase authentisch sind, können einige Zeit später schon zur bloßen Nostalgie geworden sein.

Als elementare personale Gemeinschaft ist die Familie in ihrer Spiritualität eingespannt zwischen zwei Pole: Die ihr ureigene religiöse Suche nach Ausdrucksformen des Bewusstseins existentieller Herkünftigkeit einerseits und die kritisch-modernen Authentizitätsanforderungen andererseits, die oft zu einer Haltung im Sinn von „lieber gar nichts als was Aufgesetztes“ führt.

4. Entfaltungsmöglichkeiten

Die Frage nach der Spiritualität und ihren Ausdrucksformen in der Familie lässt sich vor diesem Hintergrund zugespitzt formulieren: Wie kann in der Familie die hier aufbrechende Religiosität eine authentische Kultur des Ausdrucks finden? Die folgenden Gedanken wollen dazu noch einige Anregungen geben:

  • Ermutigung zur Suche
    Die häufig diffuse Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Situation benötigt einen Aufbruch zur tatsächlichen Suche nach Ausdrucksmöglichkeiten. Die (Selbst-)Anforderung der Authentizität verbietet es, diese Suche gänzlich an Institutionen wie Kirche oder Religionsunterricht zu delegieren, auch wenn Familien auf deren Unterstützung und Begleitung angewiesen sind. Werden Familien zu dieser Suche ermutigt?
  • Einfachheit
    Frömmigkeitsformen, die gemeinsam und authentisch sein sollen, können sehr einfach sein. Die Einfachheit bewahrt den Ausdruck davor, eine komplexe, aber inhaltsleere Hülle zu sein. Einfache Formen sind unter wechselnden Rahmenbedingungen leichter zu praktizieren. Vielleicht ist es gerade das Schlichte, das zwischen dem „Aufgesetzten“ und „gar nichts“ liegt und vielleicht haben die kleinen, schlichten Gesten mehr Bedeutung, als man ihnen zutraut.
    Mit kleinen Kindern in einer Kirche eine Kerze anzünden, ihnen beim zu-Bett-Bringen ein Kreuz auf die Stirn machen, bei Tisch einen schlichten Segen sprechen: Das können einfache, authentische Formen sein.
  • Offenheit
    Formen, die offen für Ergänzungen und Veränderungen sind, bieten die Möglichkeit, eigenes mit in den Ausdruck einzubringen. Beschränkt man sich etwa ausschließlich auf vorformulierte Texte (z.B. bei Gebeten mit Kindern), fehlt diese Möglichkeit. Spiritualität soll als Raum eigener Beteiligung und eigener Ausdrucksmöglichkeit erfahrbar werden können. Hinweise auf mögliche Formen müssen Angebotscharakter haben.
  • Vielfalt
    Vor dem Hintergrund des Gesagten verbietet sich jede Eindimensionalität und jedes „Komplettprogramm“. Soll-Bestimmungen und Idealbilder (im Sinn von:„In einer guten christlichen Familie sollte das Morgen-, das Tisch- und das Abendgebet selbstverständlich dazugehören“) sind nicht hilfreich. Förderlich könnte sein, viele verschiedene Ausdrucksmöglichkeiten zu sammeln. Wo gibt es vielleicht schon solche Suchbewegungen?
  • Gemeinschaft
    Der engste Kreis der Kleinfamilie stellt einen Rahmen dar, der sich für manche Frömmigkeitsformen schlicht als zu eng und zu intim erweist. Vielen Eltern etwa fällt es im Rahmen eines Familienkreises weitaus leichter, mit ihren Kindern zu singen und zu beten. Ehepaaren ist es ungezwungener möglich, miteinander einen Gottesdienst zu besuchen, als zu zweit miteinander zu beten. Der größere institutionelle Rahmen bietet auch Raum für die Spiritualität der Familie. Ist ein solches Angebot ausreichend vorhanden und auch bewusst?
  • Stufung
    Anregungen für eine Entfaltung der Spiritualität der Familie müssen dem Wechsel der Familienphasen und damit der Lebensumstände Rechnung tragen. Immer nur an die Familie mit kleinen Kindern zu denken, greift viel zu kurz und führt zu einer „Verniedlichung“ und „Verkindergottesdienstung“ der Frömmigkeitsformen. Gibt es für Familien außerhalb dieser „goldenen Familienphase“ situationsgerechte Möglichkeiten?
  • Ästhetik
    Frömmigkeit als religiöse Ausdrucksform bedarf in besonderer Weise einer ästhetischen Qualität. Was prägende Kraft entfalten soll, darf – bei aller Individualität des Geschmacks – nicht den Eindruck einer oberflächlichen Billiglösung machen. Dienen zum Beispiel auf Spanplatten gezogene Vierfarbdrucke von Heiligenbildern und Ikonen oder aus Wachs gegossene Heiligenfiguren im alpenländischen Stil so ohne weiteres einer authentischen Spiritualität? Was wird da an Ehrenamtliche und an Jubilare von den Gemeinden verschenkt? Hier ergibt sich eine eindringliche Anfrage an eine allgemein zugängliche christliche Kunst. Auch in dieser Hinsicht wären Familien eher zur Suche zu ermutigen. Wer kann dabei beraten? So könnte etwa ein Geschenkbasar zur Erstkommunion auf zeitbedingte Formen christlicher Kunst aufmerksam machen und mögliche Geschenke in entsprechenden Gestaltungsformen anbieten.

Die Entfaltung der spirituellen Dimension im Familienleben ist ein Grundvollzug, der Zukunft eröffnet. Es geht um den Zugang zu den Quellen, aus denen heraus Familien in allen Veränderungen und Wechselfällen des Lebens Gelassenheit und Zuversicht schöpfen können.

Ulla Werner