Mein besonderer Alltag

Eine spirituelle Gestaltung der täglichen Abläufe macht keine besseren Familien. Aber sie sorgt dafür, dass das Leben ihnen nicht unter den Fingern zerrinnt.

Wahrnehmen und zurückbinden

Das hat der Alltag so an sich: Er läuft einfach ab, plätschert dahin, zerrinnt manchmal zwischen den Fingern. Kaum hat die Woche begonnen, ist sie fast schon wieder vorbei.

Das gibt dem Alltag einen abwertenden Beigeschmack: bloß Alltag, nichts Besonderes. Im Alltag geschieht das Gewöhnliche, das Vorhersehbare und Geplante. Auch wenn öfters etwas dazwischenkommt, kommt nicht wirklich viel dazwischen und schon gar nichts Wichtiges. Das Kalkulierbare am Alltag ist auch seine Stärke. Alltagsspiritualität will genau diesen Alltag unterbrechen – aber nicht, um ihm sein Alltagsgesicht zu nehmen. Alltagsspiritualität hält den Alltag an, um genau diesen Alltag genauer wahrzunehmen (relegere) und zurückzubinden (religare).
Den Alltag genauer wahrnehmen bedeutet:
(nochmals) hinzuschauen und zu beachten, was an diesem Tag war, ist oder sein wird.
Dem Alltäglichen wird Beachtung geschenkt, es wird gewürdigt:
dass der Große heute eine Klassenarbeit schreiben musste, dass es am Nachmittag Streit gab, dass der Ausflug zum Märchensee den Tag ausfüllte.
Eine Begebenheit, die beachtet wird, kann (neu) bewertet und für die Zukunft gedeutet oder besser bedeutet werden:
Der Ausflug zum Märchensee war schön, so etwas sollten wir öfter gemeinsam machen. Der Streit heute hat uns alle traurig gemacht, und wir wollen uns wieder vertragen und ihn vergessen. Die Klassenarbeit hat den ganzen Tag überschattet; jetzt bin ich froh, dass sie vorbei ist.
Dem Alltäglichen Beachtung zu schenken heißt auch:
die Empfindungen und Gefühle wahrzunehmen, die damit verbunden sind, manchmal unentdeckt darin schlummern. Sie flammen wieder auf – aber jetzt gewinnen durch den Abstand auch andere, ergänzende Gefühle Platz. Zwar kommt jetzt beim sorgfältigen Wahrnehmen der Ärger wieder hoch, den ich heute morgen im Büro erlebt habe. Und weil das Gefühl „rauskommt“, kann ich es jetzt auch akzeptieren und beherrschen: Weil ich mich nämlich gleichzeitig erinnere, dass ich heute auch anderes, Schönes erlebt habe.
Und den Alltag zurückbinden bedeutet:
genau diese sorgfältig wahrgenommenen Erfahrungen, das, was ans Licht gehoben und gekommen ist, mit Gott in Verbindung zu bringen, an den gegenwärtigen Gott anzubinden. Das, was war oder was sein wird, kann ich vor Gott ausbreiten oder einfach hinlegen: Das ist mein Alltag, das bin ich darin und du bist mein Gott, dem ich beides bringe – den Alltag und mich.

Die Alltagserfahrungen an Gott zurückzubinden kann manchmal heißen, für eine Erfahrung zu danken und sie im Dank noch einmal zu genießen. Manchmal kann es bedeuten, mit Gott zu hadern oder sich bei Gott zu beschweren, dass vieles nicht so ist, wie ich es mir wünsche. Manchmal kann es mir helfen zu merken, wo ich noch hänge, oder auch festzustellen, was ich tatsächlich loslassen kann. Der Streit zum Beispiel hängt immer noch in der Luft, und trotzdem ist es gut, den Versöhnungswillen auszusprechen. Die Klassenarbeit kann das Kind wirklich hinter sich lassen und sich auf den neuen Tag einstellen. Der Ausflug darf in die Nacht hinein noch positiv nachwirken, ein Danke aneinander und an Gott durchdringt die Atmosphäre im Raum.
Die Entfaltung einer solchen Alltagsspiritualität braucht zweierlei:

Auswählen und Üben

Auswählen: Zu viele Rituale werden lästig

Eine Fam­lie entscheidet für sich, welche Unterbrechungen sie im Laufe eines Tages oder einer Woche setzen will. Am Tag bieten sich der Morgen, das Mittagessen oder der Abend an. In der Woche kann es der Sonntagsgottesdienst oder ein früher Abend in der Wochenmitte sein. Es geht um eine einfache und bekömmliche Gebetspraxis, um kleine wiederholbare Symbolhandlungen, Rituale, die den Tag gestalten und ordnen. Über Jahre kann eine Familie das gleiche Abendgebet mit den Kindern sprechen, und den Kindern wird es nicht langweilig. Im Gegenteil: Das gewohnte Abendgebet gibt dem Tag den Abschluss, auf den die Kinder warten und der es ihnen erleichtert, den Tag gut zu beenden. Auch zum Mittagessen genügt ein Gebet, selbst wenn ein kleines Repertoire die Chance zur Auswahl bietet. Es sind nämlich weniger die einzelnen Worte, die wirken, sondern das rituelle Tun selbst. Wenn wir als Familie am Tisch sitzen, beten wir gemeinsam. Wir fangen damit gemeinsam an und nehmen kurz Kontakt zu Gott auf, dem wir uns und alles verdanken. Auch wenn nicht alle am Tisch sitzen können, schließt das Gebet alle mit ein, ja geht sogar über den Familientisch hinaus und zieht einen größeren Kreis um den Kosmos bis zu Gott.
Das kann reichen, viel mehr ist im Rhythmus des Alltags nicht nötig. An manchen Tagen oder in einer bestimmten Familienphase (etwa zum Start des Kindergarten- oder Schuljahres) kann ein Morgenritual hinzukommen, das vielleicht aus einem kleinen Lied besteht. Zu viele Rituale dürfen es aber nicht werden, sonst könnten die re­ligiösen Eckpunkte den Kindern und den Erwachsenen lästig werden. Des Guten gibt es manchmal zu viel.
Je nach Anlass können wir das Abendgebet ergänzen um ein Gespräch über das, was an diesem Tag gut und was nicht so gelungen war. Dazu muss nicht jede(r) etwas beisteuern; vielleicht benennt nur eine(r) eine besondere Erfahrung, eine besonders erfreuliche oder eine, die noch im Weg steht, um den Tag gut abschließen zu können. Außerdem können freie Gebete angefügt werden – für die Oma, die heute Geburtstag hat, für die Freundschaft, die gerade wackelt, für das Kind aus der Schule, das an Krebs gestorben ist.
In meiner Familie haben wir uns angewöhnt, dem Abendgebet einen Segen anzuschließen: „Gott segne dich und beschütze dich“, dazu machen wir ein Kreuzzeichen auf die Stirn der Kinder. Auch diese Handlung ist einfach und wiederholbar, so wie jedes Alltagsritual einfach und wiederholbar sein muss, um zu wirken.

Üben: Das eigene Leben wirklich leben

Auf die Entscheidung folgt die Übung. Es ist wie beim Sport: Wir müssen etwa drei Monate durchhalten, bis die wiederholte Übung ihre Wirkung entfaltet – den Alltag zu ordnen und zu stabilisieren, Identität zu stiften und die Biographie zu gewichten. Es braucht eine Zeit, bis im Üben und durch das Üben die Erfahrung durchscheint, dass der Alltag und seine Unterbrechungen im Raum Gottes geschehen, dass Wahrneh­men und Rückbinden Reaktionen sind auf einen Gott, der uns wahrnimmt und ansieht und der sich grundlegend und dauer­haft an uns gebunden hat. Jede geistliche Übung, jedes Alltagsritual, sei es auch noch so klein, ist Einüben in die Gegenwart Gottes, in sein „Raum-Sein“ um uns und in uns. Dieses „Leben in Gott“ wird durch die Übung zum Prägemal des Alltags. Das heißt nicht, dass wir dann eine „bessere“ Familie sind. Das heißt nicht, dass wir dann weniger streiten als andere oder vor Krisen und Scheidung gefeit sind. Familienkrisen unterschiedlicher Couleur kommen mit und ohne Gott. Alltagsspiritualität in der Familie ist keine Lebensversicherung. Sie bringt nichts Verrechenbares, sie bringt nur eines: Dass wir als Familie nicht nur gelebt werden, sondern das eigene Leben wirklich leben, indem wir es sorgfältig wahrnehmen und zurück-, sozusagen „festbinden“; dass wir als Familie die gemeinsamen Jahre nicht verstreichen lassen, sondern uns dem Leben und seinen kleinen und großen Ereignissen stellen. Das sind wir, das ist unser Gott und das ist unser Leben. Nichts Besonderes, nichts Großartiges. Und doch etwas Besonderes und Großartiges.

Und plötzlich: die Stille

Ein wichtiges Moment der Alltagsspiritualität ist die Stille. Sie unterbricht den Alltagstrubel, das Gelebt-werden und Dahinfließen des Lebens, das alltägliche Allerlei. Zu jedem Gebet, zu jeder Symbolhandlung passt die Stille. Sie kann die Handlung umrahmen; das Gebet kann in die Stille führen. Stille ist ein Moment des Innehaltens und Anhaltens, was wesentlich zu Gebet und Ritual gehört. Die äußere ist dabei Motor für eine innere Stille. Äußerlich werden Tätigkeiten und Worte eingestellt, innerlich kommen auch die Gedanken und Gefühle zur Ruhe. Manchmal entsteht diese Stille wie von selbst, dann ist sie besonders kostbar. Kinder und Eltern kennen das, wenn beim Vorlesen plötzlich eine Atmosphäre der Ruhe entsteht, wenn bei einem Spaziergang auf einmal alle ruhig werden und ein Tier beobachten, wenn bei einem Theaterbesuch plötzlich heilige Andacht herrscht. Eltern können auf diese Stillemomente hoffen und sie zusammen mit ihren Kindern auskosten. Rund um die Gebete und Rituale im Alltag können sie auch dafür sorgen, dass Stillemomente entstehen:

  • nach dem Kreuzzeichen einen Augenblick der Stille halten, bevor der Gebetsvers gesprochen wird,
  • um die Kerze sitzen, ins Feuer schauen und still werden,
  • sich abends auf der Bettkante versammeln und innehalten.

Manchmal geht trotz der Stille-Unterbrechung im Kopf alles weiter, so als ob wir den Alltag gar nicht angehalten hätten. Dann wird deutlich, dass wir noch etwas bearbeiten oder klären müssen. Das macht nichts, dann ist die Unterbrechung genauso gelungen. Stille können wir nur sehr begrenzt selbst erzeugen. Wenn sie gelingt, ist es ein Genuss: Da sein und den „räumlichen“ Gott genießen, wie es Eckhard Raabe beschreibt: „Gott ist. Er ist da.“

Christiane Bundschuh-Schramm