Ein Spiegel des Glaubens

Stoßgebete, Litaneien, der Rosenkranz, Fürbitten und Meditationen: Wer welche Formen zu beten (nicht) praktiziert, erfährt dadurch auch etwas über seinen Glauben.

Lex orandi – lex credendi!

Das Gesetz des Gebetes sei das Gesetz des Glaubens! Oder: Was wir beten, soll Glaubensinhalt sein. Wahrscheinlich schon im fünften Jahrhundert formulierten Theologen diese knappe Lehrformel. Ein Satz, der sich aber auch umdrehen lässt: Die Gebetspraxis, wie und was ein Mensch betet, gibt Auskunft über seine/ihre Glaubenshaltung. Der bekannte Spruch „Not lehrt beten“ stimmt deshalb nur mit Einschränkungen: Wer nur in der Not betet, kennt höchstwahrscheinlich nur Bittgebete – eine eher einseitige Art zu beten (und zu glauben).

Genauso wahrscheinlich ist allerdings: Niemand „beherrscht“ und praktiziert die ganze große Vielfalt und Verschiedenheit der Gebetsformen und -stile gleichermaßen. Das muss auch gar nicht sein. Trotzdem lohnt es sich, sich diese Vielfalt zu vergegenwärtigen. Es eröffnet eine Chance, mehr über meinen ganz persönlichen Glauben zu erfahren – und vielleicht auch, wo und wie er noch reifen könnte.

Ein Gespräch unter Ungleichen

Am bekanntesten und wohl am weitesten verbreitet sind das Dank- und das Bittgebet. Darin spiegelt sich das Bewusstsein des Beters, dass er von Gott in einer Art beschenkt ist, die mit nichts zu vergleichen ist. Gott immer wieder zu danken für das Geschenk des Lebens, für die Gemeinschaft mit ihm und untereinander ist allerdings nicht in dem Sinn „Pflicht“, wie sich ein Kind artig für ein Geschenk bei der Oma bedankt, womöglich mit einem sanften Schubs von Mama („Ich habe noch gar nichts gehört!“). Aus dem Dank, in dem der Beter innehält und sich vor Augen führt, dass Gott ihn ohne jeden Hintergedanken und ohne jede Vorleistung beschenkt, erwächst der Mut, die Entschiedenheit, Gott zu bitten. Dabei gilt es allerdings nicht zu vergessen: In dieser Bitte geht es nicht um irgendwelche (weltlichen) Güter, sondern um das Bleiben in einer lebendigen Beziehung zu Gott.

Oft wird das Bittgebet verwechselt mit dem Fürbittgebet, das zwar auch Gottes Macht und Handeln voraussetzt und anerkennt, aber ein Gebet für den Nächsten ist und den Beter selbst immer auch zur konkreten Nächstenliebe verpflichtet. Ein Sonderfall dieses Gebetes ist das Segensgebet, das keineswegs allein dem Priester vorbehalten ist. Eltern dürfen zum Beispiel ihre Kinder segnen.

Anbetung ist die Mitte christlichen Betens

Ob Dank-, Bitt- oder Fürbittgebet: Möglich und sinnvoll werden sie erst in der Anbetung Gottes, müssen also auch immer wieder darin münden. Die Anbetung ist die Mitte christlichen Betens; darin wird deutlich, dass Gott stets auch der ganz Andere ist, der Schöpfer, der zwar im Herzen geahnt und erspürt, aber nie mit dem Kopf ganz erfasst werden kann. Anbetung schützt so vor Vereinnahmung und Berechnung. Wir können und dürfen Gott nicht mit unserem Beten bestechen, mit ihm handeln wollen. Als unser Schöpfer, als Grund und Ziel unseres Lebens ist er uns immer auch entzogen. Zwar dürfen wir Beten als Gespräch mit Gott umschreiben; aber wir müssen uns auch immer wieder bewusst machen, dass dieses Gespräch nicht „unter Unsresgleichen“ stattfindet. Gerade die Formen der Anbetung führen uns ständig an die Grenzen der Sprache; in immer neuen Bildern und Suchbewegungen – etwa in den Litaneien – wollen wir Gott und sein Handeln an- und aussprechen, in einer Sprache, die als Sprache des Alltags eben nicht den Begründer dieses Alltags umfassen kann.

Eng verwandt mit der Anbetung ist der Lobpreis Gottes. Auch hier gerät unsere Sprache eher zum Stammeln: „Heilig, Heilig, Heilig bist du.“ Eine andere enge Verwandte ist das betrachtende Gebet, eine Art Meditation. Hier kommt es weniger auf den Wortlaut an, wenngleich er auch verantwortet sein muss. Ein zehntes Ave Maria ändert nichts am Wortlaut und der Bedeutung des ersten; die Reihung, das stete Wiederholen im Rosenkranz, hat eine andere Bedeutung.

Das Klagegebet

Oft vernachlässigt wird eine andere Gebetsform – wegen einer scheinbaren Unvereinbarkeit mit der Form der Anbetung und dem Lobpreis: das Klagegebet. Doch diese Unvereinbarkeit ist eben nur eine scheinbare; es sind wohl die Menschen, die eine Spannung nicht aushalten können und daher einen Pol, eben das Klagegebet, aufgeben. Klage oder auch Anklage bedeutet ja nicht schon Urteil; also dürfen wir alles das vor Gott tragen, was wir nicht verstehen, was uns als Ungerechtigkeit und Ausdruck des Unheils begegnet, was uns als Widerspruch in seiner Schöpfung Gottes erscheint, die doch auf unser Heil zielt. Wir beschneiden damit nicht seine Ehre und Größe, die wir im Lobpreis aussprechen. Auch der Einwand, dass wir in Christus doch erlöst seien und eben dies glauben müssten, bedeutet nicht, dass wir uns nicht klagend an Christus oder Gott richten dürfen. Im Neuen Testament wird immer wieder deutlich, dass es eine Spannung von „schon“ und „noch nicht“ gibt – noch leben wir nicht im Reich Gottes.

Händchen falten, Köpfchen senken

Gebete lassen sich aber nicht nur nach ihrem Inhalt unterscheiden. Neben dem Anbeten praktizieren zum Beispiel viele ein „Beten zu“ – sie schalten gewissermaßen einen Mittler zwischen sich und Gott ein, oft Maria, manchmal auch andere Heilige. Auch das kann etwas über den Glauben des Beters verraten: Wozu brauchen wir die Mittler, zu denen wir beten? Ab wann wird aus diesem Brauchen ein Gebrauchen, ein Missbrauchen?

Ein weiterer, ganz anderer Aspekt: Beten können wir gemeinschaftlich – manchmal auch durch einen Vorbeter, dem alle durch ein „Amen“ zustimmen – oder im stillen Kämmerlein, bei einem Spaziergang, im Büro oder sonst wo. Der Beter ist dann zwar äußerlich allein, aber gerade durch sein Beten nicht einsam. Eng damit zusammen hängt die Unterscheidung von vorformulierten und „freien“ Gebeten. Nicht vorformuliert, aber doch geprägt und mit einem festen Rahmen versehen sind bestimmte Liturgien, zum Beispiel das Große (Ewige, 12-stündige) Gebet oder die Novene; letztere kann wiederum gemeinschaftlich oder allein gefeiert werden. Wieder eine andere Perspektive eröffnet die Frage nach (den) Gebetszeiten: Wird das Gebet auf den Sonntag beschränkt oder auf bestimmte Uhrzeiten oder Anlässe (wie das Tischgebet)? Spricht ein Beter zu bestimmten Zeiten immer dasselbe Gebet (zum Beispiel den „Engel des Herrn“)? Oder hält er jeweils zu festen Zeiten inne, um sie stets mit einem neuen, vielleicht sogar freien Gebet zu gestalten?

Noch einmal: Diese umfangreiche Aufzählung stellt keinen Katalog von Mindestanforderungen dar (etwa nach dem Motto: „Als guter Christ müsstest du…“). Aber sie hilft, sich über die eigene Gebetspraxis auch den eigenen Glauben ein Stück bewusster zu machen.

Das gilt erst recht für die verschiedenen Gebetshaltungen. Viele denken beim Stichwort Beten sofort an „knien“ und „Hände falten“. (Früher lernten Kinder gar einmal „Händchen falten, Köpfchen senken…“.) Doch gerade das christliche Beten kennt eine viel breitere Ausdruckspalette: Wie bewusst sitzt, steht, kniet ein Beter? Wann macht er eine Kniebeuge? Was ändert sich, wenn bei einer Prozession während des Gehens (des Schreitens?) gebetet wird? Wird mit der Haltung der Hände und Gesten (Kreuzzeichen, sich an die Brust schlagen) etwas ausgedrückt?

Wissen wir, was wir da singen?

Eine Sonderform quer zu allen bisher betrachteten Formen ist das Kirchenlied. Manche Lieder werden mit großer Inbrunst und Hingabe gesungen, weil die Melodie (schlicht oder erhaben, volksliedhaft oder hymnisch) unabhängig vom Text eine Eigendynamik entfaltet, die den kritischen Zuhörer mitunter fast erschrecken lässt. Ob hier allen Sängern immer bewusst ist, was sie singen? Gerade in den Kirchenliedern wird eine Bildsprache verwendet, die oft erschlossen werden muss. Das gilt für ganz neue Lieder oft genauso wie für ältere. Wenn wir singen „Maria, breit den Mantel aus“, dann sollten wir um die mittelalterliche Adoptionspraxis wissen: Ein Unfreier, Verfolgter wird unter den Mantel einer Herrin gestellt und bekommt so Anteil an ihrem Stand. Und zum Verständnis des Lieds „Wenn das Brot, das wir teilen“ müssen wir die Legenden um die Heilige Elisabeth von Thüringen kennen. Nur wenn wir diese Bildsprache erschließen, kann ein Lied zu einem Gebet werden, das Ausdruck unseres Glaubens ist und ihn bezeugt. Andererseits bieten die Melodien vieler Lieder einen „Mehrwert“, der durch die Erklärung eines Liedtextes nicht rationalistisch zugedeckt werden darf und kann.

Wilhelm Kohler