Der Zeit-Raum der Hauskirche

Spiritualität von Eheleuten und Familien entwickelt sich ganz anders als bei Ordensleuten. Einen Andachtswinkel brauchen sie dazu nicht.

Zeit: Gestalten und mit Sinn füllen

Eheleute sind keine Ordensleute. Das klingt wie eine Binsenweisheit. Aber ihre andere Art zu leben bedeutet auch: Sie nehmen Gott in ihrer Wirklichkeit anders wahr und entwickeln eine grundlegend andere Spiritualität als Ordensleute und Kleriker, deren Spiritualität weithin als der „Normalfall“ gilt. Nicht zuletzt deshalb, weil sie an anderen Orten und in anderen Zeitstrukturen leben. Die Zeit: Das Leben von Ordensleuten und Klerikern ist zyklisch geprägt durch die Struktur des Kirchenjahrs und das Stundengebet. Familien dagegen erfahren Zeit vor allem linear. Sie verstehen sich als Erben ihrer Vorfahren (der Eltern, Großeltern ...) und sorgen selbst wieder für ihre Nachfahren, zunächst die Kinder. Dieser Zeithorizont findet sich schon in den biblischen Vätergeschichten (Gen 12-50), wo die Familie oder der Klan sein Leben mit dem „Gott der Väter“ in Beziehung setzt und diese Bezie­hung an die Kinder weitergibt. Diese Zeiterfahrung über Generationen wird ergänzt durch den binnenfamiliären Lebenslauf: Die Ehepartner werden – das ist auch heute noch die Regel – miteinander alt, Kinder reifen heran. Die einzelnen Familienmitglieder wirken dabei aufeinander ein, ihre Entwicklungen prägen den binnenfamiliären Lebenslauf, der seinerseits wieder ihre Entwicklung beeinflusst. Die Zeit verändert die Menschen und ihre Beziehungen untereinander, gebiert Reifen, Gewöhnung, Krisen, Verschleiß. Liebe entwickelt sich vom romantischen Verliebtsein bis zur gereiften Form der Liebe und Vertrautheit, in der ältere Menschen miteinander leben; andere Paare dagegen leben sich auseinander und nur noch nebeneinander her.

Die Zeit läuft also nicht neutral ab wie die Uhr; sie fordert dazu heraus, sie zu gestalten und mit Sinn zu füllen. Viele Probleme, denen sich Ehen und Familien heute gegenübersehen, sind zeitlich bedingt: Deine Zeit und meine Zeit müssen miteinander in Einklang gebracht, Zeiten für Arbeit, Haushalt, Freizeit immer wieder neu ausbalanciert werden.

Kurz: Es gilt in Ehe und Familie, Zeit so zu gestalten, dass sie gemeinsame Zeit wird.

Zwischen Werden und Vergehen

Außerdem gibt es in den Zeitlinien von Ehen und Familien feierliche Zäsuren, die die Alltagsroutine unterbrechen: Familienfeiern, Geburts- und Hochzeitstage, Totengedenktage … Diese Zäsuren laden Familien ein, sich ihrer selbst zu vergewissern; die Aufmerksamkeit für ihre eigene Zeitlichkeit, für ihr Werden und Vergehen kann Eheleuten und Familien die tragende Sinndimension ihres Lebens bewusst machen. In der gemeinsamen Frage nach dem Woher und Wohin der Familie kann so der Zeit-Raum entstehen, der Familienzeit auf Gott hin transparent werden lässt – Gott, der die Ehe und die Familie durch ihre Geschichte hindurch begleitet hat und, so die Hoffnung, künftig begleiten wird.

Diese Zukunftshoffnung wird in Familien noch einmal in besonderer Weise spirituell relevant: Die Offenheit der Zukunft wird Eltern zunehmend bewusst, weil sie die Kinder zunehmend aus ihrer Obhut entlassen müssen. Das erfordert Selbstlosigkeit, eine eindringliche, radikale Selbstlosigkeit, weil Väter und Mütter die Früchte letztlich nicht ernten können, die sie gesät haben. Sie werden die „Erfolge“ der Familie in ihren Nachfahren letztlich nicht erleben. Der eigene Tod setzt dem eine Grenze. Kinder loszulassen, das „eigene Fleisch und Blut“ in die unabsehbare Zukunft zu entlassen, kann daher auch bedeuten, sich schon einzuüben in die Kunst des endgültigen Loslassens, des Sterbens.

Der Ort: Ehe- und Familienspiritualität vollziehen sich in einer Wohnung, einem Haus. Wobei „Ort“ weniger ein konkretes Gebäude meint als das Phänomen, „daheim“ zu sein. An diesem „intimen“ Ort, in diesem gemeinsamen Rückzugs­raum werden die Früchte der Arbeit miteinander genossen und verzehrt; hier werden sie im gemeinsamen Tischgebet zum Gegenstand des Dankes an den Schöpfer, der die Familie erhält und nährt – nicht nur materiell.

Es geht auch ohne Andachtswinkel

Das Heim ist Grundlage aller alltäglichen und damit eben auch der spirituellen Vollzüge des Ehe- und Familienlebens. Es kennt keine Trennung zwischen dem weltlichen Bereich und sakralen Sonderzonen; der Familien-Ort ist ein ganzer und hat als ganzer auch spirituelle Bedeutung. Das Zweite Vatikanische Konzil hat von der Familie als „Hauskirche“ (Lumen gentium 2, n. 11) gesprochen und ihr damit eine wichtige Funktion im Blick auf die Gesamtkirche zuerkannt. Zwar muss diese Konzilsaussage nach wie vor konkretisiert werden; aber zur Einlösung des spirituellen Anspruchs, der im Begriff „Hauskirche“ anklingt, müssen Familien wohl nicht erst sakrale Sonderbereiche wie Andachtswinkel oder Gebetsecken einrichten.

Die Wohnung, das Haus ist gleichzeitig der Ort für eine weitere Dimension, in der sich Transzendenz erschließt: die Gastfreundschaft. Paare öffnen ihre Wohnung für den Gast, den „Fremden“. Die Familie weitet ihr Beziehungsgefüge aus und lädt den Gast ein, teilzuhaben an der inneren Gemeinschaft der Familie. In gemeinsamem Essen und Erzählen wird Gemeinschaft gestiftet, die bloße Nahrungsaufnahme verwandelt sich in festliches Miteinander: Der Gast ist einbezogen, steht der Familie nicht länger als Fremdkörper gegenüber. Er wird zwar nicht Teil der Familie, erlangt jedoch Anteil an ihrem Beziehungsgefüge. Sie bleibt nicht in sich verschlossen, sondern ist offen für andere. Die Gastlichkeit signalisiert letztlich auch die Offenheit für Gott, den ganz Anderen.

Ulrich Dickmann