Den Geheimnissen meines Lebens auf der Spur

„Ich kann mich nicht (richtig) ausdrücken!" Das glauben viele Menschen von sich behaupten zu müssen. Dabei ist das Gegenteil der Fall!

Denn ich kann überhaupt nicht vermeiden, mich auszudrücken. In allem, was ich tue und nicht tue, was ich sage und verschweige.

Unweigerlich müssen wir uns ausdrücken, und gleichzeitig scheuen wir uns, uns auszudrücken. Welch ein Paradox! Ein Paradox, das verunsichert und vereinseitigt, weil nur eine Dimension unseres Lebens öffentlich anerkannt und gefragt ist: logisches, zweckrationales Denken und Handeln. Und das Ergebnis: Nichts fließt mehr, der kreative Energiestrom, den jeder Mensch besitzt, wird verstopft — rien ne va plus. Nur noch kaufmännisches oder technisches Vokabular macht zwischen uns die Runde, und die Geheimnisse von Körper, Leib und Seele bleiben auf der Strecke.

Sich seines eigenen Geheimnisses bewusst werden

Was mir bewusst wird, verliert seine Unberechenbarkeit — so lehrt uns die Psychologie. Unbewusstes und Unterbewusstes bestimmen unser Leben in hohem Maße. Wenn ich mein Leben stärker selbst gestalten will, muss ich versuchen, mir selber mehr auf die Schliche zu kommen. Und das geht eigentlich nur, indem ich mich wage — wage, mich zu blamieren, Verhaltensweisen ausprobiere, die mich an meine persönlichen Grenzen bringen, und indem ich mit anderen viel über mich selbst, meine Sehnsüchte und Wünsche, Ängste und Unsicherheiten, Gefühle und Träume spreche. Dadurch werden mir meine Gemeinsamkeiten, aber auch meine Besonderheiten, meine Einmaligkeit stärker bewusst. Ich werde mir (und anderen) zwar lebenslang ein Rätsel bleiben — aber ich werde wissen, dass ich ein Geheimnis bin. Ich bin zwar ein Mann unter vielen — aber gleichzeitig bin ich unaustauschbar einmalig.
Mir meiner eigenen Geheimnisse bewusst werden, das kann ich zum Beispiel im Schreiben eines Tagebuches. Im Tagebuch kommuniziere ich mit einem fiktiven anderen, der sich liebend kritisch auf mich einlässt und mir hilft, mich klarer zu sehen.
Eine andere Art, das eigene Lebensthema zu finden, ist das sog. automatische Schreiben. Das heißt, zehn Minuten lang alles aufschreiben, was einem in den Sinn kommt, ohne den Stift abzusetzen, einfach alles notieren, unkontrolliert, unzensiert. In Kürze wird dabei präsent, was mich innerlich zu diesem Zeitpunkt beschäftigt.

Das Geheimnis vieldeutig lassen

Es gibt eine — sehr menschliche — Tendenz, alles ganz einfach und eindeutig zu machen. Am einfachsten wäre es, es gäbe nur eine Wahrheit, nur einen richtigen Weg, nur ein Modell aufrechten Lebens. Die Wirklichkeit ist glücklicherweise anders, spannender, vielfältiger. Und das gilt es zu erhalten. Ich muss mir selbst und den anderen ein Rätsel aufgeben, um attraktiv zu bleiben. Schön beschrieben wird das in der folgenden Liebesgeschichte:

„Ein junger Bauer verliebt sich in ein Mädchen, die eines Tages mit bloßen Füßen in seinem Ort ankommt. Ihr Charme und ihr Lachen verzaubern ihn. Um sie heiraten zu können, muss er ihr versprechen, niemals nachforschen zu wollen, woher sie kommt, und sie einmal im Jahr einige Tage verschwinden zu lassen. Er respektiert ihren Wunsch, und sie sind glücklich. Sie bekommen Kinder, ihre Kühe kalben jedes Jahr, und ihre Ernten sind gut. Eines Tages jedoch beginnt ihn die Neugier zu quälen. Und er kann sich nicht mehr zurückhalten: Er folgt ihr heimlich in den Wald und überrascht sie im Kreis von Elfen, ihren Schwestern, die mit ihr tanzen. Weil er seinen Schwur brach, verliert er sie: Sie löst sich auf in einen Nebelschwaden."

Wer mit dem Geheimnis des anderen rechnet und gespannt darauf ist, was dieser ihm zu offenbaren bereit ist, wer viele Deutungsbilder und -möglichkeiten für möglich und legitim hält, der kann auch mit Widersprüchen anders umgehen — sowohl mit denen, die er beim anderen feststellt, als auch mit den eigenen. Wem andere Lebensweisen genauso richtig und authentisch sind wie die eigenen, der braucht sich nicht ständig selbst infragestellen, wenn ein anderer eine andere Einstellung und einen anderen Lebensstil hat als man selber. Jeder kann den für ihn richtigen Weg suchen und gehen. „Jeder wie Gott ihn ruft", würde der Apostel Paulus dazu sagen. Wer Vielschichtigkeit und Unterschiedlichkeit akzeptieren kann, der kann sogar mit Lust Absurdes, Widersprüche und Antinomien aufspüren wollen, statt die Auseinandersetzung damit zu vermeiden. Aus jedem Unterschied kann ich etwas für mich lernen (zumindest, dass ich selbst anders bin!) und herausfinden, dass in jedem Widerspruch sich eine tiefe Sehnsucht nach Harmonie, Einheit und Sinn verbirgt.

Sein Lebensgeheimnis zu Wort kommen lassen — ohne es auszuplaudern

„In jedem Augenblick existiert in unserem Bewusstsein ein unbekannter Satz, der nur darauf wartet, ausgesprochen zu werden." (André Breton)
Viele Menschen haben Angst, einfach etwas aufzuschreiben. Schade. Denn Schreiben befreit. Und im Wort kann man alles loslassen und loswerden. Ich erinnere mich an eine Situation, in der ich sehr traurig war. Und wie sich mir scheinbar zusammenhanglose Worte aufdrängten. Ich saß in einer Kölner Straßenbahn. Ich nahm Kuli und Papier aus meiner Aktentasche und schrieb, was hochkam, untereinander, in Gedichtform. Nach dem fünften Absatz waren meine Worte erschöpft, und ich fühlte mich besser. Verständlich sind die entstandenen Texte nur dem, dem ich sie erkläre — sie sprechen mein Inneres aus, aber sie geben mich nicht preis. Die Vieldeutigkeit der Sprache macht ihren Reiz aus. Sie hilft mir zu offenbaren und zu verhüllen. Mit ihr kann ich die Geheimnisse meines Lebens benennen und bewahren.

Mit Worten spielen

In und mit der Sprache kann ich mich nicht nur ausdrücken und verständlich machen, sondern ich kann auch mit ihr spielen und dadurch Aspekte kennen lernen, die mir das Spiel mit der Sprache erst erschließt. So genügt es, Worte aneinanderzureihen, Begriffe zu assoziieren und das Ganze in eine vorgegebene Form zu bringen — einen Vierzeiler etwa, einen Briefanfang oder was auch immer, in dem einige der gefundenen Worte vorkommen sollen. Ein neuer Sinn stellt sich spielerisch ein — und erschließt mir eine andere Dimension, eine andere Schicht meines Bewusstseins. Aus Unsinn lässt sich etwas Sinnvolles machen. Ebenso lässt sich aus Sinnvollem Unsinn machen und eine andere Seite von Text und Leben entdecken.

Ich kann Texte umschreiben oder mich an sie anlehnen wie im folgenden Beispiel:

In Anlehnung an Psalm 139
Herr, Du erforschest mich und kennst mich.
Ich aber forsche nicht nach Dir und kenne Dich nicht.
Wer Du bist und wo Du bist, ich weiß es nicht.
Deine Wege sind nicht meine Wege.
Deine Sprache verstehe ich nicht, und spüre ich ein wenig von Dir,
versuche ich Dir zu entkommen.
Trotzdem:
Erforsche mich weiter, Herr, Gott.

Was ich auch wie schreibe, immer komme ich selbst in diesen Texten vor, mit meinen Phantasien, meiner schöpferischen Kreativität, meinen Launen, meiner Stimmung und all meinen Ungereimtheiten. Doch wie komme ich dazu, mit Worten zu spielen?
Am einfachsten geht es wieder mit anderen gemeinsam. In vielen Städten gibt es Schreibwerkstätten. Und um den Schreibfluss in Gang zu bringen, können Schreibspiele helfen, wie sie etwa in dem Buch „Die Musenkussmischmaschine" (hrsg. von Bettina Mosler und Gerd Herholz, Verlag Neue Deutsche Schule, Essen 1991) gesammelt, erdacht und kombiniert sind.

Im menschlichen Geheimnis das göttliche entdecken!

Im Menschen ist Gott verborgen. Wer daher zum Menschen findet, wer zu sich selbst findet, kann auf Gott treffen.
Wer an das göttliche Geheimnis glaubt, kann auch mit Gott kommunizieren. Im Gebet. Im Schweigen. In Worten, die anklagen und verzweifeln wie Hiob, mit Worten, die sich vertrauensvoll in Gottes Ohr legen, mit Worten, die segnend Gutes wünschen. Ich kann neue und alte Worte benutzen und über diese Worte in Kontakt kommen mit dem, der mir näher ist, als ich mir selbst bin.

Zu Gott komme ich nur über mich selbst, und nur mit ihm komme ich über mich selbst hinaus — soweit bis mir die Worte ausgehen. Das aber ist ein Geheimnis des Glaubens.
Wo kommt das Geheimnis meines Lebens zum Ausdruck?
In jedem Atemzug — mal stärker, mal schwächer, mal tiefer, mal oberflächlicher.
In jeder Äußerung meines Lebens — mal offenkundiger, mal verborgener.
Wer Augen hat zu sehen, der sehe!
Wer Ohren hat zu hören, der höre!

Conrad M. Siegers