Das Natürlichste von der Welt
Keine abgeschlossenen Badezimmer, keine Verdruckstheiten und eine offene Auseinandersetzung mit den eigenen Erfahrungen in Kindheit und Jugend: Dann klappt’s auch, wenn die Kinder pubertieren, verspricht Uwe Mauk.
„Warte mal, bis deine Tochter in die Pubertät kommt. Dann bist du eh’ abgemeldet!” Dieser resignierte Satz meines Freundes Thomas beim Feierabend-Bier schwebte lange unheilvoll über meinem Verhältnis zu meiner eigenen Tochter. Lara hatte damals gerade die zweite Grundschulklasse hinter sich und war mit mir, ihrem Papa, noch voll auf Schmusekurs. Für Thomas, der zu Hause gerade mit seinen heftig pubertierenden weiblichen Teenager-Zwillingen zu kämpfen hatte, war das bestenfalls die Ruhe vor dem Sturm. Er erzählte von dem „Zickenwettstreit“ zu Hause, von schlagenden Türen, tagelanger Funkstille und urplötzlichen Weinkrämpfen. Er habe, so sein Fazit, die weitere Erziehung seiner Töchter jetzt an seine Frau delegiert: „Ich komme da einfach nicht mehr mit. Meine Frau kennt sich da viel besser aus; die beiden entwickeln sich ja auch jetzt körperlich weiter, das ist einfach nicht mehr mein Ding.“
Unterschied zwischen Jungen und Mädchen?!
Klar, dass Thomas’ Klagen mir alles andere als Mut machten. Zumal ich mich noch gut daran erinnerte, wie unsicher ich selbst mich nach Laras Geburt, anders als bei unserem drei Jahre älteren Sohn, beim Umgang mit diesem winzig kleinen Mädchen fühlte. Ein Hauptgrund dafür war sicher beruflich bedingt: Als Gefängnisseelsorger hatte ich viel mit Sexualstraftätern zu tun, die sich zum Teil an sehr kleinen Kindern vergriffen hatten. Durch diese intensive Begegnung mit sexuell motivierter Übergriffigkeit und Gewalt war ich im Umgang mit Lara anfangs total gehemmt. Bei Lukas hatte ich überhaupt kein Problem, verkackte Windeln zu wechseln und seine Geschlechtsteile fachgerecht zu säubern; bei Lara dagegen scheute ich mich. Zu groß erschien mir ihre Verletzlichkeit gerade in diesem Intim-Bereich. Zum Glück spürte meine Frau Simone meine Hemmungen; ich musste meine Angst ihr gegenüber nicht verstecken, sondern konnte sie offen aussprechen. Sie zeigte mir einfach, wie ich die täglichen Säuberungsaktionen bei Lara behutsam und genauso gründlich wie früher bei Lukas durchführen konnte; ihr Verständnis half mir, meine Anfangsscheu zu überwinden.
Nähe, Zärtlichkeit und Sexualität in der Familie
Der offene Austausch mit Simone tat unserem familiären Umgang mit Sexualität auch in den weiteren Jahren gut. Wer die eigene Sexualität leben und genießen möchte, denkt irgendwann über seine „einschlägigen“ Erfahrungen in der eigenen Ursprungsfamilie während der Kindheit und Pubertät nach. Simone und ich redeten oft darüber, über die erlebten Verdruckstheiten unserer eigenen Eltern, die (un-)ausgesprochenen Tabus in unseren Familien, über den Umgang mit Körperlichkeit und Nacktheit oder über den Austausch von Zärtlichkeiten in unserer Jugend. So fanden wir einen für uns stimmigen Umgang mit unseren Bedürfnissen nach Nähe, Zärtlichkeit und Sexualität nun in der eigenen Familie, entwickelten unsere eigene Kultur. Anders als in unseren Herkunftsfamilien gab und gibt es bei uns keine abgeschlossenen Badezimmertüren, keine Angst vor Nacktheit, keine „schlimmen Wörter“ oder ein verschämtes „Das-da-unten“ für unser Geschlecht. Bei aller Offenheit gegenüber unseren Kindern als Eltern halten wir jedoch an unseren „Privaträumen“ als Paar fest. Unsere Kinder wissen, dass wir diesen intimen Freiraum brauchen; wir reden mit ihnen auch darüber, melden unseren Anspruch darauf an – ohne zu thematisieren, was genau wir in diesem Freiraum miteinander tun.
Pubertät der Kinder
Ich habe diesen Umgang mit unserer Sexualität in der Familie während der ganze Kindheit unserer Kinder als sehr schön, befreiend und als das „Natürlichste von der Welt“ erlebt. Inzwischen ist Lara seit einem Jahr „voll in der Pubertät“; sie entwickelt sich körperlich zur Frau, und die berüchtigten Stimmungsschwankungen und Ausbrüche dieser Zeit sind Familienalltag. Lukas ist gerade unheimlich genervt von ihr, meine Frau und ich zugegeben gelegentlich auch.
Meine Befürchtungen, die Thomas mit seinen Berichten und Sprüchen genährt hatte, erwiesen sich aber Gott sei Dank als unbegründet. Das Klima und der Umgang zwischen mir und Lara oder in der ganzen Familie haben sich nicht verändert. Es gibt nach wie vor keine abgeschlossenen Türen; Lukas und Lara sind beide schon mal gleichzeitig im Bad, und ihnen ist es auch nicht peinlich, wenn wir Eltern einmal nackt durch die Wohnung laufen. Und neulich sonntagsmorgens – ich war gerade beim Anziehen – kam Lara nur in Unterhose in unser Schlafzimmer, pflanzte sich vor mir auf, zeigte auf ihren kleinen Busen und wollte von mir wissen, ob ich auch finde, dass er in letzter Zeit schon bedeutend gewachsen sei. Ich schaute sie an und musste das ehrlich bejahen. Glücklich sauste sie wieder davon.
Schade, dass mein Freund Thomas diese Nähe und dieses Vertrauen bei seinen Zwillingen als Vater so nicht erleben konnte.