Medienkompetenz für Kinder
Das Fernsehen kann auch die Phantasie beflügeln, statt sie abzutöten. Es gib Möglichkeiten, die zu einem bewussten, kritischen Umgang mit dem Fernsehen anleiten können.
Wer sieht fern?
Jedes Kind erlebt das Fernsehen auf seine Weise. Die Wer-Frage gilt persönlichen Merkmalen der Kinder wie Alter, Intelligenz, Familie und sozialem Umfeld. Wegen der unterschiedlichen Biographien sind Verallgemeinerungen nur sehr begrenzt gültig. Dass sich etwa das Fernsehverhalten Elf- und Zwölfjähriger demjenigen Erwachsener annähert, besagt für den Einzelfall gar nichts – es geht vielmehr um individuelle „Medienkompetenz“. Den kompetenten Umgang mit dem Medium erwirbt man sich jedoch nicht durch häufiges Fernsehen. Er ist vielmehr Ergebnis eines langen Entwicklungsprozesses, der unter elterlicher Anleitung am besten gelingt.
Viele Fernsehkarrieren beginnen schon im Alter von wenigen Monaten. Kleine Kinder fühlen sich leicht vom Fernseher in den Bann gezogen, auch wenn sie das Gesehene noch gar nicht richtig wahrnehmen können. Selbst viele Fünf- und Sechsjährige können die vorbeirauschenden Bilder weder verstehen noch einordnen.
Im Laufe der Entwicklung müssen die Kleinen vor allem lernen, sich von den emotionalen Eindrücken des Fernsehens zu distanzieren, dem Augenschein zu misstrauen und stärker auf das zu achten, was sich im eigenen Kopf abspielt. Kinder können die Fernsehscheinwelt am ehesten entlarven, wenn sie ihre Fernseheindrücke mit dem eigenen Erleben vergleichen. Dies fällt Kindern schwerer, wenn sie sich das Fernsehen angewöhnt haben, bevor sie eigene soziale Erfahrungen sammeln konnten.
In weiteren Lernschritten sollten Kinder die Fähigkeit erwerben, inhaltliche Zusammenhänge zeitversetzter Szenen zu verstehen, verschiedene Handlungsstränge zu verknüpfen sowie Gefühle und Motive von Fernsehpersonen zu erkennen. Schließlich geht es auch um Werbekompetenz. Diese erfordert allerdings mehr, als Werbung vom Programm unterscheiden zu können: Es geht um die Erkenntnis, dass Werbung Wünsche und Begehrlichkeit für Dinge wecken soll, die Geld kosten.
Wann sieht das Kind fern?
Ein Fernsehkind muss lernen, seine Bedürfnisse aufzuschieben. Schaltet das Kind den Fernseher ein, wenn es nicht allein sein und sich nicht beschäftigen kann? Ist es an Sofortgenuss und schnelle Bedürfnisbefriedigung gewöhnt? Reagiert es auf „Entzug“ wütend und frustriert? Solche Reaktionen mögen bei Kleinkindern noch als normal verstanden werden. Bei größeren aber zeigen sie, dass die Kinder in ihrer Entwicklung zurückgeblieben sind. Sie erwarten, dass jeder Wunsch sofort erfüllt wird. Erst wenn ein Kind seine Bedürfnisse aufschieben und auch Hunger und Durst aushalten kann, ist es auf seinem Reifungsweg gut vorangekommen: nicht jeder Verlockung und jedem Impuls sofort nachzugeben, sondern freie Zeit zu strukturieren und durch eigenes Tun auszufüllen. Erst im souveränen Umgang mit sich selbst gewinnt ein Kind Sicherheit und emotionale Stärke.
Mit dem Fernseher aus dem Alltag zu flüchten ist das falsche Rezept. Nach dem Abschalten kehren dieselben Unlustgefühle zurück. Es ist der typische Flucht- oder Eskapismuseffekt, den der Philosoph Theodor W. Adorno als „Kreisbewegung zurück zum Ausgangspunkt“ beschrieben hat. Es ist dabei ebenso kontraproduktiv, eine „gute Tat“ mit Fernsehen zu belohnen: Damit würde der Fernseher als Erziehungsmittel missbraucht und aufgewertet. Ein Kind muss erfahren, dass auch TV-Vorschriften zu den normalen Spielregeln zählen.
Ulrich Eicke